Indien
Land der Widersprüche
das gänzlich Andere, das
völlig Unerwartete
Von meinen Freunden hatte ich gehört: „Entweder Du fährst
einmal und nie wieder hin, oder die Faszination dieses Subkontinents packt Dich
und bleibt für immer bestehen. Dieses Land ist anders“. Nirgendwo ist dieser
Satz so angebracht wie in Indien. Das gilt nicht nur für Gestikulation und
Verhaltensweisen. Das gilt auch für Sitten und Gebräuche, für Religion und
Kultur, für Festlichkeiten und Alltagsleben. Indien hat seinen eigenen Geruch.
Wo geht der Respekt vor allen Lebewesen so weit, dass vegetarisches Essen als
einzig denkbare Ernährungsweise erscheint? Wo bitte sonst noch weigern sich
Menschen gar, Kleidung zu tragen, aus Angst, sie könnten andere Kreaturen damit
verletzen? Wo hockt der Friseur mit nichts anderem in der Hand als dem Zeichen
seines Standes, der Schere, auf der Straße und wartet auf Kundschaft? Wo sonst
gibt es Menschen auf der Suche nach dem spirituellen Weg, die alle irdischen
Annehmlichkeiten ablegen und oft unter großen Entbehrungen in der
Abgeschiedenheit leben? - Aber auch das andere Indien gibt es: Wo
sonst können Kühle heilig sein, während Menschen verhungern?
Der Reiz, dieses Land auf meine eigene Weise zu bereisen,
wurde immer größer. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bevor ich mich
entschloss, ein so widersprüchliches und dazu noch so armes Land alleine zu
entdecken. Hinzu kam die Überlegung, dass die indischen Frauen einen
Hauptwiderspruch darstellen: mit Recht lässt sich sagen, dass sie in
außergewöhnlichem Maß unterdrückt werden, und ebenso wahr ist, dass sie
außergewöhnlich selbstbewusst und vielleicht sogar außergewöhnlich frei sind.
In den achtzehn Jahren, da Indien von einer Frau regiert wurde, haben auch
Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen massiv zugenommen. Dieses ist für
Indien nicht ungewöhnlich. Auf meiner Reise habe ich viele Frauen in allen
möglichen Berufen gesehen: Ärztinnen, Krankenschwestern, Lehrerinnen,
Ingenieurinnen, Wissenschaftlerinnen und gleichzeitig habe ich der Presse
entnehmen können, dass täglich Vergehen gegen Frauen stattfinden. Die Frau als
Staatsoberhaupt und als Gewaltopfer: Das sind lediglich Extreme einer
wesentlich komlexeren Realität. Die indische Frauenbewegung ist präsent und
lebendig. Dass sie nicht als einheitliche Strömung zu erkennen ist, mag der
Grund dafür sein, dass sie nicht in ihrer ganzen Breite wahrgenommen wird;
richtigerweise müsste man aber gerade in dieser Pluralität eine Stärke sehen.
In einer Kultur, die so vielfältig und so traditionsreich ist wie die indische,
ist es nicht einfach, Verhältnisse zu ändern, welche - wie die meisten Anliegen
der Frauenbewegung - die Grundlagen der Gesellschaftstruktur betreffen.
Mit einer großen Portion Angst und Respekt landete ich in
Delhi, einer jener indischen Moloche, einer Hauptstadt mit über acht Millionen
Einwohnern. Von Hannover aus hatte ich per Telefon ein Bett im YMCA geordert
auf den Namen „Weirich - Deutschland“! Und tatsächlich - das Unerwartete
geschah. Mein Zimmer war reserviert - auf der einen Seite ein dunkles Loch mit
zugezogenen Gardinen, auf der anderen Seite wurde der Eingang des Hotels Tag
und Nacht bewacht, selten hatte ich das Gefühl, so behütet zu wohnen.
Am nächsten Tag wollte ich meine Busfahrt in den Himalaya,
nach Leh, Ladakh, höchstgelegene Region Indiens, buchen. Das erste Mal hörte
ich hier die Worte: No problem. Diese sollten mich auf der ganzen Reise
begleiten. Der Inder sieht in nichts Organisatorischem ein Problem. In Wahrheit
ist jedoch alles ein Problem: Die richtige Straße bzw. das richtige Haus zu
finden in einem bunten Schilderwald, aufgrund mangelnder Englischkenntnisse der
Inder erhält man falsche Antworten, Rikschafahrer, die mich in eine andere
Richtung bringen, um mehr Rupees zu bekommen, ohrenbetäubender Straßenlärm,
Gestank, Kaufen eines Zugtickets. Bettelei,
etc. etc.
Zurück zu meiner Busbuchung: Ein weiteres Problem tut sich
auf: „Road is closed“, wird mir gesagt (wegen Überschwemmung der Straße). Nach
einigen anderen Schwierigkeiten bekomme ich dann 5 Tage später einen Flug nach
Ladakh. Zuvor nehme ich mir noch einen Jeep mit Fahrer und lasse mich zum Taj
Mahal und nach Rajastan fahren. Die ganzen 3 Tage ist die Luft voll von
Abgasen. Wracks säumen die „Straße“. „Please horn“ steht hinten auf vielen
LKW’s. Jeder hupt immer, und jeder hupt anders. Die indische Hupe blökt,
trötet, pfeift je nach PS-Kaste des Gefährts. Sie ersetzt die gesamte
europäische Straßenverkehrsordnung samt Ampeln und Schilderwald. Ein Tag und
Nacht brummender, hupender Kreisel aus Autos und Auto-Rikschas, Lastträgern,
Lastwagen und Karren, vor die ein Kamel gespannt ist, ein Büffel, ein Esel. Wer
nicht einmal einen Esel und auch keinen Karren besitzt, schleppt seine Habe,
das kann ein ganzes Geschäft sein, ein kompletter Haushalt, auf dem Kopf umher.
Teeverkäufer, Brahmanen („menschliche Götter“ - oberste Schicht der
Kastengesellschaft), heilige Kühe, unheilige Ziegen und Schweine,
ausgetrocknete alte Weiblein, junge Mädchen auf dem Sozius eines Motorrollers
bahnen sich ihren Weg. Vor meinen Füßen kickt ein Auto einen Esel einen halben
Meter vor. Ein kurzer böser Blick des Eselbesitzers, ein bedauernder Blick
zurück, zwei Lächeln. In den Straßen kochen und hämmern, schneiden und feilen
dicht an dicht Hunderte kleiner Handwerker in ihren offenen Stuben. Wie 1000
Jahre vor der Erfindung der Zahnbürste bieten Frauen frischgeschnittene Zweige
zum Kauen feil. Sie reinigen die Zähne und kräftigen das Zahnfleisch.
Unübersehbar und für mich schockierend ist jedoch Indiens Armut: Unterernährte
Kinder mit aufgetriebenen Bäuchen, verendende Hunde und Katzen, die Hand eines
verkrüppelten Bettlers, die in das im Stau steckende Taxi hineingeschoben wird.
Ein paar aus Mitleid gegebene Rupees riefen einmal blankes Entsetzen bei mir
hervor, da nämlich wie aus dem Nichts Dutzende von Kinder erschienen in der
Hoffnung auf weitere Geschenke. Ich mußte mir klarwerden, dieses Problem kann
ich nicht lösen. Ich mußte meinen eigenen Weg finden, mich abzuschotten ohne
darüber zu vergessen, dass niemand aus Vergnügen bettelt. Beschämend ist nur
für mich immer wieder gewesen, dass selbst die Ärmsten der Armen so sehr
gastfreundlich sind.
Dann kommt mein heißersehnter Flug in den Himalaya. Dies bedeutete
erst einmal vorab: 3.30 Uhr Aufstehen, Taxi zum Abfahrtspunkt Richtung
Flughafen, Warten in Delhi auf fast menschenleerer Straße auf einen evtl.
kommenden Bus, nur Bettler liegen vereinzelt in der Ecke, Rikscha-Fahrer wollen
mir einreden, dass der Bus nicht kommt. Angst schleicht sich ein mit dem
Gedanken: Wie verrückt muß ein Mensch sein, sich solch einer Situation
freiwillig auszusetzen?
Unerwarteterweise erscheint dann der Bus sogar pünktlich auf
die Minute und die Belohnung für den Stress folgt ebenfalls: Sonnenaufgang über
dem 7000 m hohen Gebirgsmassiv. Ein kaum zu beschreibendes Gefühl und Erlebnis,
fast schon unwirklich wie im Traum.
Endlich die ersehnte Ankunft im herbstlichen Leh, Ladakh,
3.554 m hoch, - die Inkarnation des tibetanischen Buddhismus . Ein
wunderschönes „Schaufenster-Zimmer“ in einem süßen kleinen Guesthouse, umrundet
von den schneebedeckten Gipfeln des Himalayas, erwartet mich. Mitreisende aus
aller Welt sind immer wieder meine Begleiter. Trotz aller beschriebenen
Warnungen bewege ich mich dann am ersten Tag zu viel in der Höhe und bekomme
prompt AMS (Accute Mountain Sickness) Symptome: Appetitlosigkeit , starke
Kopfschmerzen, Lethargie, Atemlosigkeit. Nach einem Tag Ruhe und Einnahme von
mitgebrachten Tabletten vergehen die Schmerzen. Eine Woche verbringe ich unter
diesen friedvollen, freundlichen, liebenswerten und gefühlvollen Menschen.
Überall sitzen die Lydakhi herum, rauchen, trinken Tee und handeln. Die Ernte
wird eingefahren. Frauen treiben stundenlang singend Heu-dreschende Esel an.
Das Ganze ist einfach paradiesisch! Ich werde eingeladen bei einer heimischen
Familie zum berühmten Buttertee, den ich dann heimlich hinter mir im Gebüsch
versickern lasse, da er für meinen europäischen Gaumen einfach ungenießbar ist.
Meinen ursprünglichen Wunsch, eine Busreise nach Kaschmir
erfülle ich mir nicht, da dieses Gebiet zur Zeit noch Kriegsgebiet ist. Seit
1989 findet in Kaschmir ein bewaffneter Guerillakampf gegen die Zugehörigkeit
Kaschmirs zu Indien statt. Verschiedene Gruppen bekämpfen die indische
Regierung in Gestalt ihrer Armee mit unterschiedlichen Zielen. Einige bestehen
auf der Unabhängigkeit Kaschmirs, andere wünschen einen Anschluß an Pakistan.
Letztere werden durch verschiedene politische Kräfte in Pakistan tatkräftig
unterstützt.
So fahre ich dann mit diversen Bussen in insgesamt 4 Tagen (
teilweise 16 Stunden pro Tag) eine Strecke von 1.250 km nach Delhi zurück. Ach
ja, nicht zu vergessen, wieder eine nächtliche Abfahrt um 3.30 Uhr von Ladakh
aus (diese Uhrzeit scheint mich zu verfolgen), kläffende Hunde um mich herum,
elektrisches Licht gibt es mal wieder nicht, also mache ich mich mit Rucksack,
Tüten und Taschen und der Hoffnung auf eine funktionierende Taschenlampe auf
den halbstündigen Weg, Schweiß rinnt mir beim Aufladen meines Rucksackes auf
den Bus den Rücken herunter - bin schon mit den Nerven fertig bevor es losgeht.
Im Bus sitzen 30 Männer, 1 Baby und dazwischen befinde ich mich.
Dann jedoch wieder ein Highlight meiner Reise: Wir passieren
3 extrem hohe Pässe und die kurvenreiche Gebirgsstraße führt uns über die
zweithöchste befahrbare Strecke der Welt, wir überfahren den 5.320 m hohen
Taglangla. Unterwegs wechselnde Landschaften - mal öde wie der Mond,
Gletscherwassser läßt nur ein paar kleine Felder ergrünen - mal hängen Häuser
wie Chalets in den Bergen und ich fühle mich wie in der Schweiz, glasklare
Flüsse begleiten unseren Weg. Von buddhistischen Tempeln klingt der zarte
Schlag der Windglocken. Hinter den Panoramen des Hochgebirges liegen die Täler.
Gompas, Stätten des tantrischen Buddhismus säumen den Weg. Om mani padme hum,
das sechssilbige Mantra ist in Gebetssteine und Mauern am Wegesrand eingeritzt.
Angekommen in Delhi nehme ich den Zug. Wieder ein Abenteuer
für sich: Die Eisenbahn Indiens ist die Bahn mit den meisten Fahrgästen. Eines
ist über anderthalb Jahrhunderte gleichgeblieben: Sie kann die Zahl der
Fahrgäste schlicht nicht bewältigen. Zehn Millionen fahren tagtäglich mit
irgendeinem Zug. Dies bekomme ich dann am eigenen Leib zu spüren: Eng
aneinander gepreßte Menschen, dazwischen Hühner, Kisten, Kästen, Inder, die
versuchen, den Zug zu stürmen, um noch hineinzukommen, an den Fenstern hängende
halbnackte Gestalten, auf dem Dach liegende Leiber - und dazwischen stecke ich
mal wieder, eine Hand an meinem Rucksack, einen Ellenbogen in Augenhöhe, um mir
20 cm Freiraum zu erhalten, über mich steigende Menschen - kurz gesagt: Ein
10-minütiger Horrortrip von Old-Delhi nach Neu-Delhi.
Meine Zugreise 1. Klasse für 35 Stunden nach Goa im
Liegewagen ist jedoch wieder schön und z.T.
geruhsam. Gespräche mit den Mitreisenden verkürzen und verschönern die
Reise. Die Freundlichkeit der Inder fällt mir immer wieder auf und ich lerne
sie mehr und mehr schätzen.
In Goa, kleinster Bundesstaat mit einer Mischung von
indischem und portugiesischem Kulturgut, Badeparadies mit mediterranem Flair,
habe ich das Glück, eine wunderschöne Bambushütte, 50 m vom indischen Ozean
entfernt, ergattern zu können. Endlich mal eine längere Pause nach all den
Reisestrapazen. Nur noch schwimmen, tauchen, einkaufen, klönen............
Mit ein paar netten Mitreisenden chartere ich nach einer
Weile ein Taxi, das uns nach Mysore bringt, der Sandelholzstadt, Wohnsitz des
Maharajas, der einst das Gebiet des Staates Karnataka regierte. - Tja, der
Palast - das ockergelbe Gebäude mit den Zwiebeltürmen, in dem noch einige
Nachfahren des Maharajas leben, imponiert uns sehr, besonders am Abend, wenn
der Palast von 97.000 Glühlampen angeleuchtet wird. Wir sind verzaubert und
fühlen uns um ein Jahrhundert zurückversetzt - kommen uns vor wie im Märchen
aus 1001 Nacht. Doch als eine Militärkapelle den Radetzky-Marsch spielt, werden
wir unsanft in die gegensätzliche Welt Indiens zurückgeholt.
7000 km Reise in diesem Staat liegen hinter mir. Ein Staat
mit 17 offiziellen Sprachen, in wenigen Jahrzehnten das bevölkerungsreichste
Land der Erde mit 2 Milliarden Einwohnern, 7 großen Religionen - der Hinduismus
ist vor allem von besonderer Bedeutung, da er einer philosophischen Denkweise
unterliegt und für mich eine erstrebenswerte Lebensart darstellt. Indien ist
gleichzeitig atemberaubend schön bis abgrundtief häßlich, stinkreich bis
bettelarm, herrlich entspannend bis tödlich nervend. In jedem Fall ließ Indien
mich nie kalt, sondern berührte mich in jeder Situation auf angenehme bis
unangenehme Weise. Für mich ein Land mit einer noch nie erlebten Faszination.
Wehmütig besteige ich nach 6 Wochen den Flieger in Bombay
mit einer bleibenden Sehnsucht und
einer Gewissheit: Es wird nicht mehr viel Wasser den Ganges
hinabfließen, bevor ich wiederkomme........
Annette Weirich (1998)
(leider nur noch Papierbilder vorhanden)
Du rüttelst mich auf den Straßen und
läßt mich nicht schlafen,
du schüttelst mich in den Zügen und stellst
du schüttelst mich in den Zügen und stellst
meine Geduld auf die Probe.
Du zerrst an meinen Nerven, niemals kann man
ungestört in der Straße entlang laufen,
Du willst mir ständig etwas aufdrängen,
Du willst mir ständig etwas aufdrängen,
oder einfach nur Almosen.
Du stellst meinen Geschmackssinn auf die Probe
und wie viel Schärfe ich vertrage.
Du forderst mich zum Probieren auf von all Deinen
Du forderst mich zum Probieren auf von all Deinen
seltsamen Speisen und Früchten.
Du reizt meine Nerven, mit Lärm und Gehupe
sowie meine Nase mit Deinen Abgasen.
Du erstaunst mich mit Deiner Fremdartigkeit
und so vielen skurrilen Dingen.
Du stellst meine Gutmütigkeit auf eine harte Probe.
Du verlangst mir viel ab und veränderst mich,
deshalb liebe ich Dich
m y I n
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