24. Mai 2013

Eine Fallstudie

Vor einer Woche  surfe ich im Netz und finde eine Adresse bzw. die Internetseite einer deutschen Frau, (ich nenne sie hier mal Elli, da ich ihren richtigen Namen nicht preisgeben möchte) die lt. Internet in Portugal's Landesinnerem wohnt und Miniwohnungen bzw. Zimmer  vermietet. Da sie tatsächlich nur 60 km entfernt wohnt, schreibe ich ihr ein email und frage, ob es ihr Recht ist, wenn ich vorbeikomme. Sie sagt sofort zu und ich mache mich auf den Weg. Ist schon abenteuerlich, ihr Domizil überhaupt zu finden - so mitten im Nichts. An einem "Bushaltestellchen" bei Kilometerstein soundso erahne ich, dass ich diesen Sandweg wohl nehmen müsse. Ich versuche es und es geht mehr recht als schlecht durch die Pampa über tiefe Furchen, Lehm, Hügel, Gras, Sand usw., so ca. 5 km. Irgendwo stelle ich, wie mir geschrieben worden ist, das Auto ab und gehe zu Fuß weiter. Ich muss Zäune öffnen und wieder hinter mir verschließen, gehe weiter über Felder und durch wunderschöne Landschaft. Ich finde eine Stelle mit mehreren kleinen, weißen Häuschen und einem langgestreckten Häuschen mit mehreren Eingängen. Am "Haupttor" klopfe ich mal vorsichtig an, frage, ob ich richtig bin oder wo ich weiter hin muss. Eine Person schlurft irgendwie ran und öffnet. Ich frage: Elli? Ein mürrisches Ja wird mir entgegengeschleudert, dann: Du wolltest doch zu Mittag kommen. Nun hab ich extra Mittagessen gemacht und du kommst nicht. Nun hab ich alles alleine aufgegessen. Mir fällt alles aus dem Gesicht und ich antworte: Um hier her zu finden, braucht man so seine Zeit und ich denke: Na, das fängt ja schon gut an. Sie ist genauso alt wie ich, aber ein körperliches Wrack, sieht aus wie 75. Sie lässt mich herein in ihr geräumiges Wohnzimmer mit einem riesigen Kamin. Draußen scheint die Sonne, innen herrschen eisige Temperaturen, es ist dunkel, alle Fenster geschlossen. Kein Strom, allerdings ein paar Toiletten, sogar mit Wasserspülung.

Sie wird aber netter und erzählt ihre Geschichte. Ich versuche, ihr Leben zu beschreiben:

- in Köln 1953 geboren
- Beginn Medizinstudium, Abbruch nach ein paar Jahren. Sie ist politisch sehr links, aber nicht aktiv.
- mit ca. 25 mehrere Jahre durch Südamerika
- irgendwann in Deutschland Zugunfall, 3 Jahre mit vielen Operationen Krankenhaus, Oberschenkel total kaputt. Bekommt von der Bahn nur eine kleine Entschädigung.
- einen deutschen Mann kennengelernt irgendwo, irgendwann. Er will auswandern, irgendwie,     
  irgendwo hin
- sie erbt ein bisschen Geld
- sie kaufen ein Grundstück von 11 Hektar in der Nähe von Qurique, Portugal. Strikt ökologischer Gemüse- Obstanbau und teilweise auch Verkauf.
- im Laufe der Jahre fällen sie auf dem ganzen Gelände ca. 400 Bäume aufgrund einer
  Baumkrankheit (daran kann man ein bisschen sehen, WIE groß das Grundstück ist
- Mann "arbeitet" ca. 4 Jahre ein bisschen mit auf dem Grundstück, dann säuft und raucht er nur noch
- Ein paar Jahre läuft der Hof plus minus null und trägt sich selber.
- Kein Strom. Zur Zeit 2 Generatoren, von denen 1 immer kaputt ist, der Andere wird meistens auch nicht benutzt.
- Auf dem ganzen Gehöft stehen kaputte Geräte, Pferdekutschen, Boote, kleine Trecker, ein Auto usw.
- Dusche geht nur, wenn man den Generator anschmeißt.
- Sie läuft im Haus stets mit Winterjacke herum, außer natürlich in der normalerweise hitzestarken Zeit im Sommer.
- Sie bauen an, machen 3 Appartements/Zimmer fertig und vermieten ein paar Jahre lang. Es kommen einige Gäste aus umliegenden Ländern. Sie möchte jetzt keine Gäste mehr haben, ist ihr zuviel Arbeit und körperlich geht gar nichts mehr.

- Tiere jetzt:
  1 lahmer Hund, der mal im Zaun hängen geblieben ist, 1 uralter Hund, der nicht mehr richtig sehen kann
  2 Pferde
  ca. 22 Schafe
  2 Vögel im Käfig
  3 Gänse
  1 Hahn
  2 - 3 zugelaufene Katzen, aggressiv
  früher: 2 Schweine, 1 Schwein ist beim Fressen eines Huhnes erstickt, sie müssen es notschlachten. O-Ton Elli: Ach, das war ja sooo schade, aber das Schwein soundso (man mochte es und hatte einen Namen) hat dann auch ganz gut geschmeckt.....
- Das Paar beschließt, dass man Kinder haben will auf solch einem großen Hof
- Elli bekommt vor 22 Jahren Zwillinge, M. und A.
- Die Jungs gehen im Ort 4 Jahre zur Grundschule, sprechen und schreiben fast nur Portugiesisch, zu Hause wird Deutsch gesprochen.
- Sie werden lt. ihrer Aussage im Umfeld "rassistisch" behandelt und man geht in der Schule übel mit ihnen um. Nach dieser Zeit, also mit 10/11 Jahren  bleiben sie zu Hause und gehen nicht mehr zur Schule, "arbeiten" auf dem Hof.
- Die Jungs fangen an zu saufen und haben einen sehr schlechten Umgang mit anderen Jungs im Dorf, ansonsten sind sie immer mit den Eltern alleine.
- Vater macht nichts mehr, meckert nur an Elli herum. Sie hat nicht die Kraft, ihn rauszuschmeißen. Insgesamt 17 lange Jahre lang.
- Vor 10 Jahren schafft sie es, ihn mit Polizei aus dem Haus zu schaffen im Beisein der Kinder.
- Sie kann den Kindern von Baby an nicht ein einziges Mal etwas kaufen, keine Süßigkeiten, keine Schulsachen. Zu einem Weihnachten bekommen sie Hammer und Nägel, was angeblich das schönste Weihnachten war. Die Verwandten schicken Sachen, die sie nicht gebrauchen können.
- Elli hat ab und an eine Arbeit irgendwo, die bezahlt wird. Heute bekommt sie eine port. Rente von 270 Euro !!!! Damit muss sie auskommen. Das Grundstück ist bezahlt. 
- Söhne hängen die letzten Jahre nur rum, Sohn A. gesteht vor ein paar Jahren, früher einer ihrer Hunde erschlagen zu haben, weil der angeblich irgendwo gewildert hatte, was aber nicht stimmt.
- Sohn M. ist vor längerer Zeit mit einer 30 Jahre älteren Frau zusammen, die ihn ausnutzt, er ist verzweifelt und kommt von ihr nicht los. Zu Hause nur alles trostlos.
- Vor einem Jahr macht Sohn M. in einer Scheune (neben der ich stehe!!!) einen Selbstmordversuch und will sich erhängen. Das Dach trägt nicht und er kommt schwerverletzt monatelang von einem Krankenhaus ins Andere.
- Ellis Mutter macht viele Selbstmordversuche, mit ca. 65 klappt es.
- Ellis Schwester in Norwegen möchte, dass Elli Grundstück verkauft und nach Norwegen kommt. Elli will nicht aus div. Gründen.
- Die Kinder werden mit 21 Jahren von Verwandten aus diesem ganzen Elend herausgeholt. Seit ca. einem halben Jahr ist Sohn A. in Hamburg bei irgend einem Verwandten und macht dort seinen Hauptschulabschluss (er kann kaum Deutsch schreiben). Sohn M. ist in Norwegen bei Elli's Schwester und hat einen gut bezahlten Job. Wenn er dort 5 Jahre bleibt,hat er sogar eine anerkannte Ausbildung. Es gefällt ihm aber nur zumTeil bei der Familie, steht in Frage, ob er dort bleibt.
- Elli liebt Weihnachten mit den Kindern. Letztes Jahr sind beide Jungs nicht gekommen. M. sagt, er will nie wieder Weihnachten zu seiner Mutter kommen, weil es in Norwegen so viel besser ist.
- Die Jungs melden sich wenig bei ihr, schicken kein Geld nach Hause, Sohn A. bekommt Harz 4 und hat nichts.
- Elli ist ganz selten in Deutschland (das letzte Mal vor 3 Jahren), sie weiß wenig bis nichts über das jetzige Deutschland. Sie spricht von "Westdeutschland" und wundert sich über meine "moderne" email-Anrede "Hallo Elli".
- Noch niemals Fernseher gehabt, kein Radio. Jetzt aber Internet (wie weiß ich nicht), wo sie auch ab und an drin ist, hat eine web-Seite, die aber jetzt nicht mehr aktuell ist. Handy hat sie und spricht gerne und viel mit wem auch immer. Das ist das Einzige, was sie sich leistet.
- Elli lebt nur in der Vergangenheit, spricht im Detail über viele Ereignisse aus dem Baby- und Jugendlichenalter ihrer Jungs. Sie redet ununterbrochen. Ich lass sie auch reden, da ich merke, dass sie so mal glücklich ist, dass jemand da ist, der ihr "zuhört" (kann nicht stundenlang zuhören, kriege nur die Hälfte mit).
- Elli meint: Wenn nur jede Woche eine/r käme und mit ihr reden würde (so wie ich jetzt), ginge es ihr schon viel besser - aber es kommt keiner.
- Nach ihrem 60. Geburtstag (vor kurzem) ist sie so deprimiert, weil von den ca. 12 Gästen (u. a. auch ihre Schwester) keiner da bleiben möchte und die Schwester den Rest ihres Urlaubes in einem Appartement in der Nähe wohnt. Die Schwester ist beleidigt, weil sie nicht nach Norwegen kommen möchte. Elli nimmt Psychopharmaka von ihrem Sohn, fällt aus dem Bett, Schulter auch noch kaputt.
- Elli kann kaum noch laufen, da ganz stark Arthrose, geht nur noch raus, wenn etwas mit den Tieren nicht stimmt und wenn Heu rein muss (wie sie das schafft, ist mir unklar). Sie wird, wenn der öffentliche Krankentransport die Kranken in den nächsten Ort bringt, "gnädigerweise" vom Hof abgeholt (wenn noch Platz im Auto ist) zum Einkaufen und zurückgebracht. Sie meint, sie wäre glücklich, wenn sie noch 10 Jahre leben würde.
- Elli kann Nähe nicht ertragen. Ein Hof wurde ca. 400 m entfernt von ihr gebaut (angeblich nicht erlaubt), das ist ihr viel zu nahe. Ich will bei ihr vor dem Haupthaus übernachten mit meinem Bus, den ich dann noch vom Feld geholt hatte. Sie möchte das nicht, ist ihr zu "nah", ich soll hinter einem der Bruchgebäude stehen, was ich auch mache.
- Elli hat mit den meisten Nachbarn irgendwie Krach und ist fast IMMER alleine. Im Winter sind die englischen Nachbarn auch nicht da und sie ist weit und breit mit ihren Tieren alleine.
Sie will es so!!!

DAS IST AUSSTEIGEN!!!! Und zwei Kindern ist das Leben 21 Jahr lang zur Hölle gemacht worden.

Ich schwanke zwischen völligem Entsetzen, Mitgefühl, Unverständnis und meinem Bedürfnis, zu helfen. Ich kann es nach einer Nacht, einem langen Vormittag mit ihrem stundenlangen Reden, immerhin einem Spaziergang mit Unterbrechungen und einem Mittagessen (einem Auflauf, den sie extra für mich zubereitet, weil ich am Abend gesagt hatte, dass ich Auflauf mag), nicht mehr in dieser depressiven Umgebung aushalten und fahre ab. Sie tut mir unendlich leid. ich fühle, dass es ihr ganz schlecht gehen wird nach meinem Besuch und die Einsamkeit wird kaum für sie auszuhalten sein. Aber - sie will auf dem Hof bleiben, ihn behalten und ihre Situation nicht verändern. Ich kann ihr nicht helfen. Ich fahre deprimiert ab und denke tagelang an dieses komplett andere Leben einer Frau im selben Alter wie ich.

Bilder vom Hof im nächsten Post.