Bemerkung aus dem Jahre 2018:
Dieser unten stehende Bericht wurde 2000 gechrieben. Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, dass ich Auroville inzwischen differenzierter und kritischer sehe. Die Entwicklung ist auch an diesem immer noch ungewöhnlichen Platz nicht vorbei gegangen, was, wie mit allen Orten dieser Welt, positiv und negativ zu sehen ist. Meiner Meinung nach ist es nun ein (teurer) Ort der esoterischen Mainstream-Verwirklichung für Middleager aus Europa geworden, die in der in dem Alter üblichen Lebenskrise stecken. Seit dem Jahre 2005 war ich nicht wieder in Auroville und habe auch keinen weiteren Besuch geplant.
Ein aktueller Bericht aus dem Jahre 2018 von Jörg Heuer, David Klammer ist unten angehängt. Zusätzlich ist noch ein Bericht aus dem Jahre 2001 von Christian Litz angehängt.
Milleniumsfeier im Jahre 2000
in Auroville - Stadt
der Zukunft
Auroville (
Bedeutung: Stadt der Morgenröte), gelegen in Südindien, in der Nähe des kleinen, französisch geprägten Ortes
Pondicherry, 100 km von Madras und 5 km vom bengalischen Ozean entfernt, ein
einmaliges Projekt auf dieser Welt. Ich will versuchen, den Sinn dieses Ortes
zu erklären, in dem ich die beeindruckendste Sylvesterfeier meines Lebens
erlebt habe.
Wie hat es angefangen?
Der Impuls zu dieser Stadt kam in den 60er Jahren von einer
Frau, der Französin Mirra Alfassa, genannt „Die Mutter“. An der Seite des
indischen Evolutionsphilosophen und Yogi Sri- Aurobindo leitete sie den Sri
Aurobindo Ashram in Pondicherry, doch sie wollte mehr als diese
Schülergemeinschaft. Sie wollte eine universelle Stadt bauen, in der Männer und
Frauen aller Länder in Frieden und zunehmender Harmonie leben können, jenseits aller Glaubensbekenntnisse,
politischer Richtungen und Nationalitäten. Auroville‘s Aufgabe sollte darin
bestehen, menschliche Einheit zu verwirklichen. Am 28.02.1968. versammelten
sich 15.000 Menschen aus 124 Ländern auf dem Auroville-Plateau. Sie alle
deponierten Erde aus ihrer Heimat in dem neu errichteten Amphitheater in einem
Gefäß, welches die globale Verbundenheit symbolisieren soll.
Wie sieht Auroville heute (im Jahre 2000) aus?
Aus der vertrockneten Einöde wurde ein üppiges Biotop und
die 2 Millionen gepflanzten Bäume wurden zum Symbol für organisches Wachstum.
Heute leben und arbeiten hier ca. 1400 Menschen aus rund 28 Ländern. Es gibt
imposante Lehmbauten und solide Häuser,
in denen einheimische Techniken, ökologischer Pragmatismus und blühende
Phantasie eine gelungene Verbindung eingegangen sind. So manch Architekt lebt
hier seine Phantasien aus, meistens mit dem Gedanken des gemeinsamen Geistes
von Auroville. Viele Häuser sind vorbildlich mit Solartechnik, Biogasanlage und
Brauchwassernutzungssystem ausgestattet. Mehrere Biofarmen und die privaten
Gemüsegärten ackern auf das Ziel der Selbstversorgung
zu. Etwa die Hälfte des Bedarfs an Obst, Gemüse und Getreide kommt inzwischen
aus dem Eigenanbau.
Für die Gesundheit
sorgt ein Zentrum, das ständig wächst und kostenlos allen zur Verfügung steht.
Von klassischer Schulmedizin über Homöopathie bis zu Reiki, Massage und der
traditionellen indischen Aryuveda-Medizin ist alles vertreten.
Um die Bildung
kümmern sich Kindergärten und 3 Schulen. Die höheren Schulabschlüsse werden in
Pondicherry im französischen Gymnasium absolviert, studiert wird oft im
Ausland.
Wirtschaftliche
Situation von Auroville:
Die Stadt ist von zusätzlichen Spenden abhängig und bekommt
sie vor allem für die ökologischen Projekte und die Entwicklungshilfe.
Öffentliche Geldgeber von Auroville sind u. a. UNESCO, EG, nationale und
internationale Stiftungen, französische und andere Ministerien, Unternehmen,
Institutionen und Verbände.
Die indische Regierung finanziert einen großen Teil der
Wiederaufforstungskosten. Doch die Auroville-interne Landwirtschaft trägt sich
selbst. Rundgerechnet kann etwa ein Drittel der Aurovillianer ganz von hiesiger
Arbeit leben, ein weiteres Drittel lebt teils von Auroville, teils von
Erspartem oder Dazuverdientem und das letzte Drittel braucht überhaupt kein
Geld von Auroville und lebt aus Zinserträgen, Erbschaften, Renten u. ä. In den
Betrieben herrscht weitgehende Finanzautononomie und nicht nur das Einkommen
wird untereinander ausgehandelt, sondern auch, was an Auroville abgegeben wird.
Angestrebt ist zwar, 30 % des Gewinns abzugeben, doch die Abgaben bleiben
freiwillig. Aurovillianer zahlen einen geringen Beitrag monatlich in einen
zentralen Fond, in den auch die Abgaben von Gästen , die Beiträge der Newcomer,
die Abgaben der Produktionsstätten sowie zweckungebundene Spenden fließen. Aus
diesem zentralen Fond werden außer der Infrastruktur und den Serviceleistungen
wie Strom und Wasser auch die Unterhaltszahlungen bestritten. Zusätzlich gibt
es eine Art Kindergeld und für individuelle Notfälle bleibt ein Sondertopf.
Kommunikationsmittel
sind interne monatl. Zeitschriften, Telefone sowie - forciert durch die eigene
Elektronikfirma Aurelec - viele Computer einschl. Internet sowie Fax-Geräte.
Wichtigstes Medium aber sind die zahllosen Meetings und Arbeitsgruppentreffen.
Arbeitsplätze bietet
Auroville sowohl im Rahmen der Entwicklungshilfe als auch in der ökologischen
Forschung oder in der Bildungsarbeit. Außerdem gibt es mittlerweile 60
Betriebe, vom Ein-Frau-Betrieb bis zum mittelständischen Unternehmen mit
Hunderten von Mitarbeitern. Produziert wird Kunsthandwerk und Kleidung sowie
Nützliches für Auroville und Indien: Bautechnik, Windmühlen, Ziegelpressen,
Elektronik, Elektroteile, aber auch Räucherstäbchen, Lampenschirme, Holzspiele
und Hängesitze.
Geliebt und gelebt
wird hauptsächlich in Zweierbeziehungen und das Modell der Kleinfamilie hat
hier keineswegs ausgedient. Das Familienleben erweitert sich durch den Faktor
Gemeinschaft, in der die Kinder überall ein- und ausgehen.
Den Mittelpunkt von Auroville bildet die Zone der Ruhe, des
Friedens und der Meditation und da, wo sich sonst Rathaus und Kirche befinden, steht
das
Matrimandir - die Meditationskugel.
Sie ist die Seele des Ganzen. Das Innere dieses Bauwerkes besteht aus einem
beeindruckenden Hauptraum mit einer leuchtenden Kugel im Zentrum – ein Platz
der Konzentration und Stille, in dem ich zu meinem eigenen Erstaunen seit
langer Zeit mal wieder richtig zu mir selber gefunden habe. Da , wo Leute sonst
durch Einkaufszentren hetzen, kann man hier durch die Gärten wandeln , im
Amphitheater verweilen oder Ruhe und Konzentration üben. Um dieses Zentrum
drehen sich die vier Zonen spiralförmig nach außen, die Wohnzone, die
Arbeitszone, die Kulturzone und die internationale Zone.
Ich möchte unbedingt betonen, dass Auroville keineswegs eine
Art New-Age-Zentrum ist. Angeboten werden allenfalls Yoga-Kurse, energetische
Heilmethoden wie Reiki und Tanzgruppen. Die Stadt will kein therapeutisches
Reiseziel werden. Oft bieten Gäste ein besonderes Seminar an und sind froh,
aktiv etwas beitragen zu können. Das ist eine gute Form, Auroville für sich zu
erobern. Allgemein gilt: In Auroville geht jeder seinen Weg individuell und
trägt sein Päckchen allein.
Gast sein
Charakteristisch für den Gast in Auroville ist, hin- und
hergeworfen zu sein zwischen Verzweiflung und Begeisterung. Verzweiflung über
all das, was nicht klappt, über lähmende Hitze oder zermürbenden Dauerregen,
Begeisterung, weil man gerade eine spontane Einladung von einem überaus netten
Aurovillianer bekommen hat, weil alles so weit, großzügig und herrlich
urspünglich ist, ohne Ampeln, Schilder und Regeln, Begeisterung über die
wunderbare Natur mit all den
Streifenhörnchen, Vögeln, Pferden und Ochsen, über
lange Abende unter klarem Sternenhimmel. Begeisterung über den Strand und das
Meer, das sich – wie Auroville – täglich von einer anderen Seite zeigt. Ich
wohne in einem eigenen kleinen Guesthouse mitten zwischen Wald-, Wild- und
Obstbäumen, umrundet von Wasser und während des gemeinsamen Frühstücks und
Abendessens an einem langen Tisch unter Bananenbäumen neben dem Swimmingpool
wird ausgelassen gelacht und gescherzt – man macht sich auch oft über Auroville
lustig, denn glücklicherweise wird auch hier nicht alles so bierernst gesehen.
Wenn man sich wie ich mit dem Moped auf den roten Sandstraßen fortbewegt,
ständig von irgend jemanden, den man gerade kennengelernt hat, gegrüßt wird,
sich mittags in der Solar-kitchen trifft, nicht urlaubstypische, sondern tiefe
Gespräche führt, nette Menschen aus aller Welt trifft, dann bekommt man schon
das Gefühl der Wärme und des Familienlebens, das sich hier so anders gestaltet.
Diese Lebensform ist ohne heimatlichen Berufsstress, ohne den üblichen
Konkurrenzkampf und das Gefühl des Geborgenseins macht sich immer mehr breit.
Ich stelle fest, dass es noch etwas Anderes gibt als Weltreisen und das Abhaken
von Sehenswürdigkeiten. Meine anfänglichen Bedenken, nämlich dass dies ein
Ashram bzw. eine Sekte sein könnte, wurden zerstreut. Mir wurde klar, dass dies
wirklich ein Ort jenseits aller Glaubensbekenntnisse ist und für mich „Die
Mutter“ sowie Sri Aurobindo lediglich eine Art Schutzheilige dieses Ortes sind.
Die
Milleniums-Feier
habe ich in besonders liebevoller und warmer Erinnerung. Nach einem recht
unterhaltsamen und lustigen Essen mit Freunden wurde dann die ganze Nacht unter
sternenklarem Himmel gefetet und getanzt. Gegen 5.00 Uhr wurden wir im
Amphitheater mit einer Blume begrüßt, um uns herum ein Meer von Kerzen und
riesige, liebevoll arrangierte Blütengebilde auf dem Boden.
Es wurde ein
Lagerfeuer entfacht, viele Einwohner von Auroville, Gäste sowie ca. 600
indische Besucher aus der Umgebung waren mucksmäuschenstill, sehr schöne ruhige
Musik untermalte die feierliche Stimmung und jeder gab sich seinen eigenen
Gedanken zum Jahrtausendwechsel hin. So langsam kroch dann gegen 6.00 Uhr der
Morgen hervor und es wurde hell. Die Sonne des nächsten Jahrtausends erschien
langsam am Horizont. Ein einmaliges Erlebnis, das ich nie vergessen werde!
Pondycherry am indischen Ozean, 20 Minuten von Auroville, 3 Stunden von Chennai (früher Madras) entfernt:
Was es ist
Es ist die Stille mitten im Trubel des Ganzen
es ist das Gefühl des Friedens
es ist der gemeinsame Geist
es ist die Suche nach Sinn
es ist Geborgenheit und Gelassenheit
es ist ein Ort der den Sinnen schmeichelt
es ist ein Ort des gedanklichen Austauschs
es ist ein Ort der uns der Erkenntnis ein Stück
näherbringt
es ist ein Ort der Meditation und Versenkung
es ist ein Ort der Hoffnung gibt
A u r o v i l l
e -
eine Vision wird wahr
(Gedicht von Annette Weirich aus dem Jahre 2000)
Kein
Bürgermeister, kein Materialismus, dafür ganz viel Yoga. Das war die
Idee. Nun wird Auroville, Stadt der Zukunft in Südindien, 50 Jahre alt.
Wie lebt es sich dort heute? Frederick, Andy und Marissa, drei
Generationen einer deutschen Familie, erzählen.
Es
regnet, und wie! Marissa schnappt sich ihr Motorrad und prescht zum
Sportplatz. Monsun im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, und Marissa,
17 Jahre, trifft ihre Freunde zur Schlammschlacht. Der rote Sand hat
sich in ein Meer aus Matsch verwandelt, die Teenager tollen umher.
Barfuß, mit T-Shirt und kurzen Hosen. Wie eine Schneeballschlacht, nur
eben bei 30 Grad und unter Palmen.
Marissa ist Abiturientin mit deutschen Wurzeln und hier geboren. Was
sie noch vorhat an diesem Freitag? „Vielleicht gehen wir ins
Jugendzentrum, da ist Pizzanacht. Eine Tangonacht gibt es auch – und am
afrikanischen Pavillon steigt eine Drum Session. Oder ich gucke auf
meinem MacBook allein einen Film.“ Natürlich: iPhone, mobiles Internet,
Whatsapp, Facebook haben es längst auch bis in den indischen Dschungel
geschafft.
Wenn der Regen aufhört, ist es fast paradiesisch hier: Papageien und
Schmetterlinge schwirren umher. Es duftet nach Blüten. Und die Leute,
die einem auf Fahrrädern oder Mopeds entgegenkommen, lächeln meist. In
Auroville, 150 Kilometer südlich von Chennai, sechs Kilometer vom Golf
von Bengalen entfernt. Gegründet vor 50 Jahren als internationale Stadt.
Kein Besitz, dafür Freiheit und Frieden
Sie ist eine experimentelle Gemeinschaft, die sich im Kleinen eine
bessere Welt bauen will. Ohne Privateigentum und mit ganz viel Freiheit
und Frieden. Heute leben hier 3422 Einwohner aus 54 Ländern, die
meisten von ihnen sind Inder, aber es zog auch viele Franzosen,
Deutsche und Italiener hierher – Menschen fast aller Religionen und
Glaubensrichtungen. In Auroville ist die Welt ein Dorf.
Die Idee, ein solches Utopia zu gründen, hatte der indische
Zukunftsphilosoph Sri Aurobindo, der 1950 starb. Seine langjährige
Vertraute Mirra Alfassa, die hier alle „die Mutter“ nennen, gründete
Auroville nach Aurobindos Schriften. „Die Mutter“, eine französische
Mystikerin, war der erste Mensch aus dem Westen, der in Indien als Guru
verehrt wurde.
Der Außenminister von Auroville
„Ich kannte sie ganz gut, ich war mal ihr Tennispartner“, sagt
Frederick Schulze-Buxloh. Der 78-Jährige, der aus einer reichen Essener
Industriellenfamilie stammt, ist Marissas Großonkel und berühmt und
respektiert in Auroville. Für viele Aurovillianer ist er der
Außenminister. „Ach was“, sagt er lachend. „Ich bin der König von
Auroville.“
Wenn es Dinge zu entscheiden gab – Fredericks Worte zählten. Er hat
noch immer einen guten Draht zu indischen Regierungsstellen und
internationalen Hilfsorganisationen, die das Stadtprojekt
unterstützen. Die Siedlung steht auch unter der Schirmherrschaft der
UNESCO.
„Nach dem Abitur wollte ich weg aus Deutschland“, er fand den Umgang
mit Altnazis in Deutschland problematisch, erzählt er beim Gespräch im
„Solar Kitchen“, wo viel mit Sonnenenergie gekocht wird und halb
Auroville täglich zu Mittag isst. Für umgerechnet einen Euro.
„Sie blickte in mein Innerstes“
„Ich war damals ein frühreifer Lebemann. Eigentlich war mein Ziel die
USA, das Land der Befreier. Doch ich bekam kein Visum.“ Also zog es
ihn nach Osten. „Ich war nie religiös gebunden, aber schon immer an
Philosophie interessiert. In meinem jugendlichen Leichtsinn strebte ich
ein Leben als Mönch oder Eremit an. Tief in mir drinnen spürte ich eine
große Unruhe.“
Er fuhr 1960 mit dem Schiff von Genua nach Bombay, weiter mit dem Zug
nach Kalkutta, ins Himalaya-Gebirge – und schließlich kam er ins
Ashram von Pondicherry, ein Meditationszentrum. Hier traf er Mirra
Alfassa, „die Mutter“. „Es war unglaublich, wie tief sie in mein
Innerstes blickte. Ich beschloss, ihr mein Leben zu widmen.“
Er kehrte noch einmal nach München zurück, studierte Germanistik,
Philosophie und Anglistik. Doch die Magisterarbeit gab er nicht mehr
ab. „Meine Seele war in Indien geblieben“, sagt er. „Und als man mit
Auroville drauf und dran war, eine neue Welt zu bauen, reiste ich
zurück.“
Ein Utopia ohne Strom und Wasser
Auroville sollte inmitten einer Halbwüste entstehen. Frederick
brachte die Botschaften „der Mutter“ unter die Leute, half bei der
Eröffnungsfeier am 28. Februar 1968 und auch beim Bau der ersten Hütten:
„Sandstürme tobten, die Sonne brannte, und wir hatten weder Strom noch
Wasser, nicht mal genug zu essen. Es war eine harte Zeit.“
Er selbst wurde wegen illegaler Landnahme mehrfach verhaftet und
verprügelt. Trotzdem baute Frederick nach den Entwürfen des
italienischen Architekten Piero Cicionesi Aurovilles erstes Haus aus
Stein und mit Dachziegeln. Er zog mit seiner schwedischen Ehefrau ein.
Nicht nur für ihn war das ein Statement: „Wir sind jetzt hier – und wir
bleiben.“ Ein Headquarter sei das Haus gewesen, „die
Revolutionsunterkunft“, sagt Frederick, der längst ganz entspannt wirkt.
Weitere Häuser und Hütten folgten. Auroville wurde ein Sammelbecken
für Hippies, Aussteiger und schräge Vögel. Viele strandeten zufällig
hier, nur wenige folgten den Ideen von Aurobindo oder „der Mutter“.
Einige kamen auch, weil sie in ihrer Heimat gescheitert waren oder gar
vor Strafverfolgung flohen – und einen Neuanfang suchten. Die einst
angestrebten 50 000 Einwohner bleiben bis heute Wunschdenken.
Fitness, Wellness und Arbeit für alle
Nach und nach machten Aurovillianer die Halbwüste urbar und
bewohnbar, sie pflanzten über zwei Millionen Bäume. Dort, wo einmal
nichts war, wuchert heute der Regenwald mit vielen tierischen
Bewohnern. Affen hocken wie Wachposten ganz oben in den Mangobäumen,
Mungos suchen nach Schlangen, Frösche quaken ihre Lieder.
Sport ist wichtig hier, Tennis, Badminton, Basketball, Fußball,
Volleyball. Es gibt Fitnessstudios und Wellnessoasen – auch für die
vielen Besucher. Dazu eine Skaterbahn, ein Kino, ein Schwimmbad,
Dutzende Chöre, Theater-, Musik-, Tanz- und natürlich Yogagruppen. Es
gibt mehrere Kindergärten, und die Schüler können international
anerkannte Abschlüsse machen. Die Wirtschaft floriert, Auroville
versorgt sich größtenteils selbst und produziert für den internationalen
Markt. Die Gemeinschaft hat rund 5000 Arbeitsplätze für die Bewohner
der angrenzenden Dörfer geschaffen: auf den vielen Baustellen der Stadt,
den Farmen, in den Restaurants, in Hotels und Gästehäusern, der
Räucherstäbchen- und Kerzenfabrik, der Schokoladen- und Papierfabrik, in
der Möbel- und Musikinstrumentemanufaktur, in der Town Hall, im
Krankenhaus und in den Supermärkten.
Basidemokratie statt Bürgermeister
Es gibt weder Bürgermeister noch Stadtparlament, dafür gewählte
Gremien, die alles basisdemokratisch besprechen und entscheiden sollen.
Jeder, der für die Stadt arbeitet, bekommt rund 130 Euro Lohn im Monat.
Selbstständige und Unternehmer müssen einen Großteil ihres Gewinns als
Steuern an die Stadt abführen – und den Rest reinvestieren. Reich soll
keiner werden. Jedes gebaute Haus, jedes Grundstück geht in die
Auroville Foundation über.
Doch das liebe Geld, das es nach der Vision Aurobindos und „der
Mutter“ eigentlich gar nicht geben sollte, ist hier sehr wichtig. Viele
Familien schicken Abgesandte ins Ausland, um dort Geld zu verdienen: als
Cannabispflücker in Kalifornien, Tätowierer in Tokio, Servicekraft in
Sydney oder Yogalehrerin auf den Malediven.
So ist auch Marissas Vater Andy, 63, jedes Jahr ein paar Wochen in
Hamburg, um zu jobben. Seine Frau Gabi war zuletzt in Berlin, wo sie auf
dem Weihnachtsmarkt Nippes verkaufte. Mit dem Verdienst halten sie die
dreiköpfige Familie finanziell über Wasser. Marissas iPhone, das MacBook
– alles mitfinanziert von diesem Geld und von den Verwandten im Westen.
Gabi ist gerade wieder im Ausland unterwegs, Marissa
und Andy sind
allein zu Hause. Sie kommt aus der Schule, er von der Arbeit im
Immobilienbüro, wo er für Landzukauf zuständig ist. Jetzt sitzen Vater
und Tochter gemeinsam auf dem Sofa und musizieren. Der Vater spielt
Gitarre, die Tochter singt einen Song von Bob Dylan.
„Die schönste Kindheit“
Wie lebt es sich im Dschungeldorf, Marissa? „Ich hatte die schönste
Kindheit, die man sich nur denken kann. Immer barfuß in der Natur. Ich
kann surfen und auf Bäume klettern, ohne Sattel reiten und ohne
Streichhölzer Feuer machen, habe keine Angst vor Schlangen oder
Skorpionen – und alle meine Freunde und Freundinnen sind für mich wie
Brüder und Schwestern.“
Es gibt sicher auch Nachteile hier, oder? „Einen richtigen Freund zu
finden, also einen, den ich lieben kann, ist sehr schwierig. Nicht nur
für mich, für alle. Und ganz ehrlich: Wenn ich das Abitur habe, freue
ich mich drauf, allein hinaus in die große Welt zu gehen, zu studieren,
andere Menschen und Lebensweisen kennenzulernen. Vielleicht in
Australien oder in Deutschland. Ich kann es kaum erwarten, auch wenn
ich vieles nicht weiß: Wie eröffne ich ein eigenes Bankkonto, wie ziehe
ich ein Busticket? Ich werde es lernen.“
Und ihre Freundinnen und Freunde? „Alle zieht es zum Studium oder zur Lehre hinaus in die Welt.“
Die Jugend verlässt Utopia
Ihr Vater Andy ist nicht traurig, wenn er Marissa, die nur Indien
kennt – und Deutschland von Verwandtschaftsbesuchen –, so reden hört.
„Irgendwann bricht die Jugend selbst aus dem Paradies aus“, sagt er und
lächelt. „Das ist normal.“
Er ist Anfang der 70er Jahre mit seiner Tante im Auto von Bayern nach
Auroville aufgebrochen, erzählt Andy. Die Tante meinte, ihr Bruder
Frederick brauche unbedingt ein Auto in Indien. Sie fragte Andy, ob er
Lust hätte, sie zu begleiten. Und Andy, der gerade an Abitur, Lehrern
und Eltern verzweifelte, vom Internat geflogen war, hüftlange Haare
trug, Rockmusik hörte und gern Alkohol trank, hatte Lust.
Angekommen in Auroville wunderte er sich, dass in den Häusern überall
„Fotos von dieser alten Frau“ hingen. Seine ersten Brötchen verdiente
er als Bäcker. Sein Vater schickte ihm 12 000 Mark, mit denen er sich
ein Haus auf einem 4000 Quadratmeter großen Grundstück baute. Er
heiratete und ließ sich wieder scheiden. Seine jetzige Frau Gabi, eine
Aussteigerin aus Ingolstadt, lernte er 1997 hier kennen, und dann kam
Marissa zur Welt.
Das Matrimandir, das Haus "der Mutter"
Von 1976 bis 2008 baute Andy am Haus „der Mutter“ mit, dem
Matrimandir, knapp 30 Meter hoch, 34 Meter der Durchmesser, über fünf
Millionen Euro teuer. Das weithin sichtbare sakrale Zentrum von
Auroville ist eine mehrstöckige goldene Kuppel, ein Raum für Meditation
und Andacht. Das Licht! Die Stille! Das Matrimandir ist alles in einem:
Kirche, Synagoge, Moschee, Tempel. Wie ein Keimling wächst es aus der
Erde, symbolisiert Aurovilles Anspruch: Hier entsteht etwas Neues.
Überhaupt die Architektur hier. Der experimentelle Geist spiegelt sich
auch in den Häusern wieder. Bis heute gibt es kaum Vorschriften, und so
entstanden viele futuristische, oft verspielte und bunte Bauwerke.
Bist du ein spiritueller Mensch geworden, Andy? Irgendwie schon,
antwortet er. Er meditiere jeden Morgen,
und egal ob er trainiere oder
arbeite, er lebe das, was so etwas wie das übergeordnete Motto in
Auroville ist: Alles Leben ist Yoga. Was das bedeutet? „Man ist immer
ganz nahe bei sich. Man liebt, was man tut. Und man tut es intensiv.“
„Einen, der wie ich damals als Rebell hier ankam, würde man heute
gewiss nicht mehr aufnehmen“, glaubt Andy. „Allein weil ich das Geld
nicht hätte, um mir hier ein Haus zu bauen und mich einkaufen zu können.
Und weil die Aufnahmekommission mir eh nicht glauben würde, dass ich
weder rauche noch trinke.“
Genau das sei das Problem, ergänzt Marissa: „Es kommen zu wenig
junge Leute mit mutigen Ideen und zu viele Ältere mit nichts außer viel
Geld her. Oder Rentner, die sich zur Ruhe setzen. Sie sorgen dafür, dass
unsere Stadt immer älter wird. Außerdem: Was haben die mit Aurovilles
eigentlicher Idee zu tun?“ Zur Erinnerung: kein Privateigentum, kein
Materialismus, keine Macht, dafür Frieden und Freiheit.
Wann warst du das letzte Mal im Matrimandir? „Ewig her.“ Und kennst
du die Schriften von Mirra Alfassa? „Habe ich noch nicht gelesen. Werde
ich aber. Irgendwann.“
Andy trainiert, Marissa paukt
Vater und Tochter musizieren noch ein bisschen miteinander, bevor
Andy sich die Laufschuhe anzieht.
„In wenigen Wochen steht der
Auroville-Marathon an“, sagt er. „Mein Trainingsplan ist
stramm.“ Derweil zieht sich Marissa in ihr Zimmer zurück und bereitet
die nächste Klausur vor. „Ich will ein gutes Abi machen“, sagt sie. „Es
wird mir draußen sicher helfen.“
Andy räsoniert noch weiter, in der Stadt der Zukunft ist längst nicht
alles so golden wie in der Theorie. „Alkohol ist nicht erwünscht, aber
natürlich wird getrunken“, sagt er. Und es gebe viele, die vereinsamen.
Vor allem Ältere oder Kranke. Auch Frederick, der Mitgründer, wundert
sich über manche Bewohner: dass sie über laute Nachbarskinder streiten,
über Äste, die über die Grundstücksgrenze hängen, oder Mitbewohner, die
nach 22 Uhr noch die Klospülung benutzen. „Einfach lächerlich“, sagt
er.
Der Mensch ist eben auch in Auroville Mensch geblieben – mit all seinen Verfehlungen und Macken und unerfüllten Hoffnungen.
Wer noch mehr wissen möchte, bitte unten lesen:
Alltag im Paradies
(Bericht aus - brand
eins – Wirtschaftsmagazin, 2001 brand eins Verlag)
Autor Christian Litz
Auroville wurde 1968 von dem Philosophen Sri Aurobindo
gegründet. Es sollte ein Ort ohne Eigentum sein, aber voller spiritueller
Energie. Heute gibt es in der Gemeinschaft in Indien Geld und Ungleichheit.
Doch die Utopie existiert immer noch. Sie hat überlebt, weil es Menschen gibt,
die sie leben.
----- Der Zyklon schlägt hart zu, der schlimmste, der Indien
in den letzten 50 Jahren traf. Bäume knicken, Häuser brechen, Dächer fliegen,
Motorräder wirbeln, Wasser kommt von oben, von der Seite, von unten. Ein Mungo,
eine Marderart, sonst immer nur am Boden, fliegt in etwa einem Meter Höhe über
die Straße und dreht sich dabei um sich selbst. Ein unglaublicher Anblick.
Aber: Ein fliegender Mungo ist nichts gegen Fred im Zyklon. Sitzt in der großen
Küche der Gemeinschaft Aspiration und schält Kartoffeln. Fred ist Würde. 60
Jahre, Senatoren-Ausstrahlung, sein Haare sind grau und dick, die Falten um
seinen Mund perfekt, seine Haltung kerzengerade. Fred kann selbst beim
Kartoffelnschälen den Edelmann geben. Er erzählt von früher. Die Küche ist auf
einer Seite offen, nur ein paar Pfosten, keine Wand. Bäume krachen, die
Geräusche sind laut und schrecklich, das schöne Mädchen links von ihm, in
Auroville geboren, schneidet Tomaten und kreischt ängstlich. In Aspiration wird
mehrmals die Woche gemeinsam gegessen. Viele der Communities machen das, obwohl
es die Großküche gibt, die alle versorgen kann. Das Essen in den Communities
ist eine soziale Veranstaltung. In Aspiration haben alle irgendwann
Küchendienst. Heute Fred und das Mädchen. Der Tisch in der Mitte des Raumes ist
nass. Strom gibt es schon lange nicht mehr. Werden morgen noch alle leben? Fred
war dabei, als Auroville gegründet wurde, 1968. Er kannte Mutter noch
persönlich.
Wie es begann und was es wurde: vom Traum eines Yogi zu
einer internationalen Gemeinschaft, in der alles allen gehört.
Mutter? Ja, Mutter. Ein Rückblick: Sri Aurobindo, in England
aufgewachsener Inder, kommt 1893 zurück nach Indien, wandelt sich vom
Revolutionär zum friedlichen Philosophen und Yogi. Er sagt: Alles Leben ist
Yoga. Und: Der Mensch ist nur eine Zwischenstufe der Evolution. Sri lernt
Mutter kennen, eine Französin, die früher in Japan gelebt hatte. Die beiden
ergänzen sich, so, wie sich in Indien Mann und Frau oft ergänzen. Er ist für
die abgehobeneren Belange des Lebens, also Philosophie, Politik und Ähnliches
zuständig, sie für das Praktische, Organisation, Finanzen. Er schwebt, sie
regelt den Alltag. In Pondicherry, südlich von Madras am Golf von Bengalen,
entsteht ein Ashram, ein religiöses Zentrum. Und die Leute kommen. Sris Regeln
sind massentauglich, denn er ist nicht zu fordernd. Askese muss nicht sein. Man
macht auch Yoga, wenn man auf dem Markt ein Huhn kauft oder verkauft. Er ist
als Guru ein angenehmer Typ. Gut, das ist jetzt alles arg vereinfacht, er hat
einige Bücher geschrieben, viel erklärt. Nur ein Zitat: „Der Mensch ist ein
Übergangswesen; er ist nicht endgültig. Denn im Menschen und hoch über ihm steigen
strahlende Stufen zu einer göttlichen Übermenschlichkeit empor.“ Und so weiter.
In Auroville ist Sri, was für gläubige Katholiken der Papst ist.
Sri stirbt Anfang
der fünfziger Jahre, Mutter übernimmt. Sie ist in Auroville fast so heilig wie
Sri. Sie sagte: „Auroville gehört niemandem im Besonderen. Auroville gehört der
ganzen Menschheit.“ Und: „Es ist der ideale Ort für jene, die wissen wollen,
welche Freude und Befreiung das Aufgeben von persönlichem Besitz mit sich
bringt. Alles gehört der Gemeinschaft. Niemand ist berechtigt, über etwas als
privates Eigentum zu verfügen.“ Und: „Geld wird innerhalb Aurovilles nicht
benutzt werden. Auroville wird nur mit der Außenwelt Geldbeziehungen eingehen.
Aurovillianer erhalten keine Gehälter.“ Da irrte Mutter, es gibt Geld in
Auroville, Konten, so genannte Maintenances, statt Gehälter. Es gibt ein paar
Gruppen, die versuchen, ohne Geld auszukommen, es gibt welche, die
untereinander kein Geld tauschen, es gibt welche, die Geld wie Heu machen und
es an die Gemeinschaft geben, es gibt auch reiche Aurovillianer. Die Ökonomie
Aurovilles ist schwer zu verstehen, viele verschiedene Systeme existieren
parallel nebeneinander, kaum jemand blickt durch. Worte, die immer wieder
fallen, wenn die Leute versuchen, ihre Wirtschaft zu beschreiben, sind
Flickenteppich und Mosaik.
Bigi, etwa 60, aber
jugendlich, aus Deutschland, arbeitete lange an der Cote d’Azur als
Immobilienmaklerin, ist in Auroville für den Landkauf zuständig. Sie sammelt
Spenden, in Europa, Indien, den USA. Die Landpreise steigen hier für indische
Verhältnisse ins Unermessliche, Spekulanten machen eine schnelle Rupie. Sie
erklärt stundenlang die wirtschaftlichen Verhältnisse und endet so: „Okay, das
ist schwer nachvollziehbar, aber irgendwie funktioniert es. Auroville ist ein
Erfolg.“ 1500 Menschen leben in Auroville, Mutter wollte 50000. Nur wenn man
die Einheimischen in den umliegenden Dörfern, die stark von Auroville
profitieren, dazurechnet, kommt man nahe an die 50000. 1200 Hektar Land gehören
zur Gemeinschaft, gar nicht mal so viel. Auroville ist eine Ansammlung schöner
Dörfer inmitten des in wenigen Jahren gepflanzten Dschungels. Alles ist grün,
dicht, ab und zu Wiesen und Felder, Pfauen tapsen herum, alles wirkt friedlich,
angenehm ruhig, eine schöne Umgebung. Viele tolle Gebäude, geplant und gebaut
von Leuten, die ihrer Phantasie freien Lauf ließen, die keine Bauvorschriften
zu achten hatten. Die meisten wohnen in Einfamilienhäusern, oft mit
Solartechnik und Brunnen. Einige Villen wirken futuristisch, extravagant. Es
gibt ein paar Apartmenthäuser, dazu Unterkünfte für junge Leute. Die Häuser
gehören niemandem: Einer baut eins, lebt darin, überlässt es einem anderen, er
bekommt nichts dafür, alles gehört der Gemeinschaft, ständig wird umgezogen.
Dann gibt es noch viele Gästehäuser: Dezember, Januar, Februar ist
Touristensaison, Auroville verdient in der Zeit einen wichtigen Teil seines
benötigten Geldes, es wird Kurtaxe verlangt.
1200 Hektar Land
mit etwa 80 Communities, die so schöne Namen haben wie: Adventure, Acceptance,
Arc en Ciel, Certitude, Eternity, Fraternity, Hope, Grace, Quiet, Reve,
Simplicity und Verité. Discipline nicht vergessen, in Discipline leben
lustigerweise vor allem Deutsche, Siegfrieds und Karins. Nachnamen hat niemand.
Aus 50 Nationen
kamen sie hierher. Laut Statistik sind 32 Prozent der Bevölkerung Inder, 18
Prozent Franzosen, 15 Prozent Deutsche, fünf Prozent Italiener, je vier Prozent
Holländer und Amerikaner, drei Prozent Schweizer, dann folgt eine lange Liste
mit allen möglichen Ländern. Jährlich kommen etwa 60 bis 80 neue Bewohner dazu.
Die Zuzugsrate wird kontrolliert klein gehalten, die Geburtenrate ist sehr
hoch. Intern, wenn über Faulpelze geschimpft wird, wird Auroville oft mit
Kolonial-Allüren verbunden. Viele tamilische Frauen und Männer arbeiten für die
Westler, natürlich bezahlt, putzen ihre Häuser, arbeiten auf den Feldern. Die
Arbeit und die Bezahlung seien für die Tamilen attraktiv, die Frauen bekämen
durch sie Freiheit von ihren Familien. Viele tamilische Kinder und Jugendliche
gehen in Auroville-Schulen, die Frauen in den Dörfern bekommen Kredite vom
Outreach Project Auroville, die medizinische Versorgung der Umgebung hat
Auroville übernommen. Tamilische Familien wollen Aurovillianer werden. Man kann
doppelt so viel Mitgift verlangen, wenn der Sohn eine Tamilin heiratet.
Wie es gedacht ist und wie es gemacht wird: der sanfte
Selbstversorger Johnny und der harte Otto, zuständig für Finanzen.
Mutter starb 1973, in Auroville sagen sie: Sie verließ ihren
Körper. Johnny ist 58, er kam Ende der sechziger Jahre aus Australien hierher
und liebte die Idee,pflanzte Bäume, baute Häuser. Er erzählt von früher. „Wir
hatten damals das beste Material, Pumpen, Werkzeug, wenn du was gebraucht hast,
gabst du dem Anwalt einen Zettel, der ging zu Mutter, die zog ein paar Scheine
unter dem Kissen hervor, auf dem sie saß, und du hast damit den Generator
gekauft.“ Johnny sagt: „Geld war damals nicht knapp in Auroville.“ Viele reiche
Leute brachten viel mit. Spenden kamen in Mengen. Die indische Regierung gab
und internationale Organisationen, zum Beispiel die WHO, die UNESCO, die EWG.
Zurzeit sind vor allem Inder, die im Silicon Valley reich wurden, die großen
Spender. In Auroville konnte gebaut und gepflanzt werden. Viel Geld ging in
ökologische Projekte. Früher war hier Wüste, jetzt ist Dschungel. „Inzwischen
ist die Geldlage eng.“ Johnny braucht kein Geld: Alles, was sie in seiner
Community, Fertile, essen, bauen sie selbst an, er trägt nur Klamotten, die in
Auroville gemacht wurden. Kein Strom in Fertile, die Pumpen werden von
Sonnenstrahlen angetrieben. „Unser Hauptziel ist Selbstversorgung.“ Für ihn ist
Fertile ein Paradies.
Der graubärtige
Mann ist stolz auf einiges hier. „In Auroville machst du, was du machen willst.
Wenn du hinter einem Schreibtisch sitzt und Papiere unterschreibst, dann machst
du das, weil es dir gefällt, du musst es nicht wegen des Geldes machen.“ Weiter
mit Begeisterung: „Wir sind hier Farmer, wir bauen an, was wir brauchen, so was
gibt es doch heute kaum noch auf der Welt, es ist der reine Luxus.“ Allerdings
normalisiert sich Auroville: Vor kurzem wurde ein Moped von einem Jugendlichen
gestohlen, es gibt Drogen, ein Junge aus Auroville starb in Madras an einer
Überdosis. Der indische Staat lässt Auroville machen: Kein indischer Polizist
ist für die Gemeinschaft zuständig, die soll alles allein regeln.
Johnny ist
entspannt. Er meditiere zwar, mache auch Yoga, „aber hey, das ist kein
Yogaregime hier, Leben in Auroville ist frei.“ Er ackert auf den Feldern, macht
Jugendarbeit. Abends liest er, auf dem Holztisch unterm Palmdach liegt ein
altes Satiremagazin, daneben ein Buch über Paul Klee und eines mit dem Titel
„Natural Capitalism, Creating the Next Industrial Revolution“. Viele
Bibliotheken gibt es in Auroville, Bücher, CDs, viele Konzerte, viele
Tanzvorführungen, Kultur ist kostenlos und im Überfluss, Vorführungen von
Filmen indischer Regisseure, ein Truffaut hier, ein Faßbinder da. Plakate
kündigen an: Schubert, Brahms, Messian. Und so weiter. Aufführungen von
Auroville-Bewohnern.
Unter dem mit
Palmblättern gedeckten Dach des offenen Gemeinschaftspavillons von Fertile:
Johnny, der einen Lungi, einen Wickelrock trägt, schüttet Tee nach und sagt,
was alle in Auroville sagen: „Haha, du willst mit Paul sprechen. Vergiss es, er
wird keine Zeit für dich haben.“ Paul und Laura leiten Maroma, das ist die
Firma – in Auroville heißt das Unit – die Räucherstäbchen produziert und seit
Jahren der Gemeinschaft so viel Geld zukommen lässt, dass die damit zwei Drittel
ihres Etats finanziert. Ohne Maroma gäbe es Auroville nicht mehr. Ohne Paul und
Laura gäbe es Maroma nicht. Maroma liefert Geld, Geld wird gebraucht, abernicht
gemocht, hat ein richtig schlechtes Image.
Noch mal zurück zu
Fred in der Aspiration-Küche während des Zyklons. Zwei indische Aurovillianer
kommen in die offene Küche gerannt, schreien, dass Bäume umgefallen sind, einer
auf Freds Haus. Fred nickt würdig, dann versucht er, Auroville zu erklären. Ein
unmögliches Unterfangen, immerhin sagt er: „Wir versuchen, ein Leben zu leben,
das nicht normalen Motiven folgt.“ Draußen tobt der Zyklon. Die Frage hier sei
immer: Was kannst du beitragen? Später erzählt er von sich: Jemand aus seiner
Familie hatte die Zeitschrift »Quick« gegründet. Fred machte 1959 in München
Abitur, fuhr mit dem Frachter nach Indien, war hier und dort und landete im
Ashram von Pondicherry, Mutter beeindruckte ihn: „Ich sah in ihre Augen und
ging auf eine Reise. Ich wollte Mitglied im Ashram werden, ich saß im Garten
und meditierte. Eines Tages öffnete ich die Augen, und da stand diese gut
aussehende Schwedin vor mir. Ich wurde Stiefvater ihrer drei Kinder und hatte
zwei eigene mit ihr.“ Wie alle Beziehungen in Auroville, fast ohne Ausnahme,
geht auch diese in die Brüche. Das habe damit zu tun, dass die Frauen hier
selbstbewusster seien und die Gemeinschaft sich um alle kümmere. Deshalb
verließen alle Frauen ihre Männer, erklärt später jemand.
Otto kam später als
Fred nach Auroville. Otto ist Hardcore, so wie Johnny, nur, dass der entspannt
wirkt. Otto dagegen hat, bei all seiner spürbaren Sensibilität, seiner leisen
Nuschelstimme, eine Stalin-Aura. Er ist ein Überzeugungstäter, will die
Menschen bessern, was viel Härte erfordert, von allen, denen, die gebessert
werden sollen, aber auch von ihm. Er sitzt im ausgewaschenen blauen Hemd, mit
schwarzem Schnauzer und einem traurig-müden Blick der Verzweiflung in „Roma’s
Kitchen“, einem Restaurant. Die völlig unzeitgemäße Drahtbrille schief im
Gesicht, redet er über Geld. Er ist dafür genau der Richtige. Der Österreicher
verwaltet die klammen Finanzen der Kommune.
Otto hat eine lange
Geschichte hinter sich: Arbeitete bei einer Bank in Wien, stieg aus, machte
zehn Jahre die Disco „Mississippi“, stieg wieder aus. Auf nach Auroville. Zehn
Jahre blieb er in der Bäckerei. Die ist für viele Neuankömmlinge der erste
Anziehungspunkt. Alle Leute, die hierher kommen, haben ein großes Bedürfnis,
erst mal Bäume zu pflanzen und Brot zu backen. Mehr als zwei Millionen Bäume
haben die Aurovillianer bisher gepflanzt, sie haben die Erosion gestoppt, einen
Landstrich gerettet. Und ihr Brot ist gut. Eine Italienerin, die es verkauft,
lächelt und sagt ernsthaft: „The backery is under german leadership.“ Ab und zu
lacht man in Auroville über den Begriff „Oberbrotführer“.
Wie das Grundeinkommen in die Gemeinschaft kam, wofür es
nicht reicht und was man dann dringend braucht: Geld.
Nach zehn Jahren Bäckerei managte Otto „Pour Tous“, den
Supermarkt in Auroville. Pour Tous, französisch: für alle. Anfangs war der
Supermarkt kostenlos. Die Leute holten sich, was sie brauchten, die
Gemeinschaft finanzierte es. So funktioniert noch heute der Kleiderladen, der
Kinderladen und einige andere Versorgungseinrichtungen. Pour Tous aber
funktionierte so nicht. Otto, der Sanierer, zog ein, als nichts mehr, wirklich
nichts mehr am Lager war, Geld sowieso nicht. Seine Reform: Jeder Aurovillianer
bekam ein Konto. Darauf kam das Geld, das die Gemeinschaft jedem Einzelnen für
geleistete Dienste gibt, die so genannte Maintenance. Da auch künstlerische
Tätigkeiten oder spirituelle Leistungen mit Maintenance honoriert werden,
schließlich ist alles und jeder wichtig für die Gemeinschaft, ist Maintenance
eigentlich ein Grundbetrag zum Lebensunterhalt, der jedem zur Verfügung gestellt
wird, egal, was er tut. Es ist ein bescheidener Unterhalt, aber er reicht zum
Leben. Es gibt einige entspannte Nichtstuer in Auroville. Otto schimpft auf
sie: „Ich habe mit vielen Leuten zusammengearbeitet, die an dem Tag, an dem sie
Aurovillianer wurden, nicht mehr zur Arbeit kamen.“
Die Wartezeit bis
zur Aufnahme wurde deshalb von einem Jahr auf zwei erhöht, sagt Otto. Viele
würden hier schnell zum Künstler. Kunst ist wichtig, klar, aber er mag das
nicht so, er ist schließlich für die Finanzen zuständig. Die Idee sei:
„Auroville versorgt die Leute, die geben dafür ihre Energie.“ Sein System bei
Pour Tous funktionierte, Spenden wurden reingepumpt, die Leute konnten und
können immer noch für einen bestimmten Betrag einkaufen. Spenden gibt es viele.
Einige leben hier bescheiden, geben ihr Geld an die Gemeinschaft. Einige leihen
es, es wird auf ein Konto gelegt, die Zinsen gehen an Auroville, das Geld
gehört weiterhin dem Geber. Manche verdienen in Auroville viel Geld und geben
viel ab. Wieder fallen zwei Namen: Paul und Laura, die Leiter der
Räucherstäbchenproduktion. Otto sagt: Paul wird keine Zeit haben für ein
Gespräch, der arbeitet 20 Stunden am Tag.
Pour Tous
funktionierte, alles lief. Otto stieg wieder aus, managte den Foreign Exchange,
eine Art Bank, sie war in der Krise. Krise ist oft in Auroville, es ist
faszinierend, wie krisentauglich die Aurovillianer sind, keine Krise macht sie
richtig nervös. Otto bewährte sich auch dort, und als mal wieder große Krise
war, wurde Otto überredet: Er war plötzlich für die Gesamtfinanzen zuständig.
Das Erste, was er machte: Der Account aus dem Lebensmittelladen wurde Account
für alles. Ob Bäckerei, Café, Internet oder Mittagessen in den
Gemeinschaftsküchen, alles geht über den Account. Bargeld ist theoretisch nicht
mehr nötig in Auroville. Das funktioniert aber nur begrenzt, schließlich wollen
die meisten Moped fahren, ab und zu nach Pondicherry oder gut in Roma’s Kitchen
speisen. Es gibt Möglichkeiten, in Auroville Geld auszugeben. Nur Kultur ist
immer kostenlos und Spirit, also Yogakurse, die Selbstfindungssachen, die
psychologische Betreuung, die Schulen für die Kinder, Kleider für sie, das
kostet nichts. Aber Luxus schon. Auch ein bisschen Luxus. Es gibt Gründe,
Bargeld zu haben. Otto managt nun die Finanzen, er arbeitet mehr als die fünf
Stunden täglich, die die Gemeinschaft von jedem erwartet. Jetzt sitzt er in
Roma’s Kitchen am Rande der Siedlung, auf der Terrasse. Mittagszeit, damit Otto
keine Arbeitszeit verliert, das war eine Bedingung. Die andere: Du musst
zahlen. Okay.
Otto erklärt warum:
Er ist ein Asket, lebt allein von der Maintenance. Deshalb auch die antike
Drahtbrille. „Man muss bescheiden sein, ich habe ein Fahrrad, kein Motorrad,
ein Motorrad ist teuer.“ Seine Frau, deren zwei Kinder und er leben von 13000
Rupien im Monat, etwa 500 Mark. Viele Aurovillianer gehen im Sommer für zwei,
drei Monate nach Europa, jobben. „Ich finde das abartig, die kommen zurück,
kaufen sich ein Motorrad oder so was, müssen sich noch zwei Monate erholen,
fehlen hier im ökonomischen Prozess. Und sie haben einen zu hohen
Lebensstandard für das, was wir hier produzieren.“
Was nicht funktioniert hat: von der gescheiterten
Computer-Industrie und den Menschen, die gern Geschäfte machen wollten.
Es folgt Theo, einer der Computer-Jungs. Lange brachten die
Computer-Units Geld nach Auroville, viel Geld. Es gab aber ein Image-Problem.
Theo, deutsch, Computerfreak, seit 1986 in Auroville, erklärt die Organisation:
„Mehrere Units sind zusammengefasst zu einem Trust, ich bin, Moment, wie heißt
das“, er schaut nach, „ja, hier, Managing Trustee, das heißt, ich bin
verantwortlich für alle Vermögenswerte, bewegliche und unbewegliche. Meine Unit
ist Penta.“ Er klagt: „Business war in Auroville immer ein Schimpfwort. Bei
unserem Unternehmen Aurelec aber hieß es: Business ist nötig, wir haben uns
stark gemacht für Business. Paul bei Maroma war cleverer. Der hat einfach Geld
gemacht, gegeben und den Mund gehalten. Wir haben das Maul aufgerissen und
gesagt, Geld verdienen ist in
Ordnung. Meine Güte, wir waren unbeliebt.“ Aber erfolgreich.
Angefangen haben
sie mit Scannern für die Lederherstellung in indischen Betrieben. Das Ding
tastete das Leder ab und sagte, wie groß es ist, wie viele Schuhe daraus zu
machen wären. Danach bauten sie Computer. Kauften Teile in Taiwan, setzten in
Auroville alles zusammen, als in Bangalore noch kein Computer stand. „1988
wurden wir IBM-kompatibel.“ Damals waren die indischen Einfuhrzölle mörderisch.
Es war lukrativ, in Indien Computer zusammenzubauen. „Wir haben die Gehäuse aus
Fiberglas in Auroville gemacht, die Einzelteile teilweise selbst gebaut, den
Rest geholt. Wir hatten ein Korrosionsproblem, also haben wir eine
Pulverbeschichtung entwickelt.“ Danach haben sie sich auf Netzwerke
konzentriert, mit Novell kooperiert, waren da indischer Marktführer. „Wir
hatten eine imposante Kundenliste.“ Die indische Bahn zum Beispiel benutzte
Hardware aus Auroville.
Was prima funktioniert: von der Firma Maroma, die zwei
Drittel der Finanzen reinholt, und ihrem Chef Paul, der den Luxus liebt.
Der Niedergang begann mit der Foundation, sie wurde 1992
gegründet. Ganz oben ist die Foundation, eine Art e.V., geleitet von Otto.
Darunter die Trusts, unterteilt in Units. „Wir haben gesagt, um Geschäfte zu
machen, ist die Foundation Scheiße.“ Weil sie gemeinnützig ist, keine Aktien
haben darf, weil ihr der Boden gehört, bekommen die Units und die Trusts keine
Kredite von Banken, sie haben keine Sicherheiten, ihnen gehört nichts. „Venture
Capital kannst du vergessen, die spucken nicht mal auf dich. Die Restriktionen
kamen alle von Auroville, nicht vom indischen Staat, wir haben uns selber
gelähmt.“ Nach und nach machten sich die Computerleute selbstständig, Aurelec
spaltete sich in Privatfirmen, die gingen nach Pondi und Madras. Theo: „Paul
hat ein heiliges Produkt gemacht, Räucherstäbchen, das war in Ordnung, aber
Computerbusiness wurde hier gehasst.“
Es gibt zurzeit
etwa 100 Units, nur wenige machen Gewinn. Sie produzieren Stoffe, Kleidung,
Schuhe, übersetzen via Internet in viele Sprachen der Welt, betreiben Läden,
reparieren Fahrräder, stellen Sonnenkollektoren und Biogas-Tanks her,
restaurieren Möbel, betreiben ein Reisebüro. 100 Units, wenige Geldbringer. Die
große Ausnahme: Maroma. Maroma sieht aus wie eine Festung, hohe Mauern
drumherum, Wächter in Uniformen am Tor, alles völlig untypisch für das Leben
hier. Beim Chef, Paul, muss man einen Termin beantragen. Aber er nimmt sich
zwei Stunden Zeit. Es werden zwei Tage, weil Paul sehr kommunikativ ist. Paul
ist 50 Jahre alt, kam mit 24 hier an und fühlt sich seitdem wie 24. Er hat
graue kurze Haare, trägt ein weißes Seidenhemd, gekauft in Kyoto, steht auf
Luxus, sagt er später. Laura, seine Partnerin, und er haben einen Swimmingpool
in ihrem Garten. Sein Lächeln ist dezent, wissend, ehrlich. Paul liebt
Auroville und mag Mauern, sie machen frei. „Mauern schaffen Grenzen, dein Hirn
kann sie dann überfliegen.“ Maroma ist die Auroville-Erfolgsgeschichte. „Man
kann das Wachstum nicht auf Papier erklären, Mathematik arbeitet hier nicht. Je
mehr wir ausgeben, desto mehr kriegen wir zurück. Wir investieren gern, wir
mögen Schönheit, und dafür muss man nun mal bezahlen.“ Wie die meisten
Aurovillianer sieht Paul jünger aus als er ist.
Paul ist Algerier,
kam nach Frankreich, arbeitete als Apotheker, kam nach Auroville. Maroma,
zusammengesetzt aus Mutter und Aroma, begann 1976 als erste Unit. Er war, nach
einer Zeit in der Bäckerei und in der Bibliothek, kurz dabei, wurde dann aber
erst mal Landwirt. Auroville erklärt er so: „Es ist ein Menschheitsexperiment.
Geld ist hier nicht Gesetz, nichts gehört einem. Wenn du das nicht akzeptieren
kannst, bist du falsch in Auroville. Hier brauchst du einen anderen Motor.“
Nein, Geld sei nicht sein Motor, ja, er arbeite viel. „Es gibt hier fleißige
Leute und Leute, die ihren Vorteil suchen.“ Einfach hinschmeißen ginge aber
nicht, trotz der Vorteilssucher, weil darunter auch die wahren Aurovillianer zu
leiden hätten. „Wir müssen eine andere Art Leben entdecken. Die Erde braucht
das, sie ist in keinem guten Zustand, es muss sich etwas
ändern.“
Was Paul braucht,
sei Shopping, in Bombay, Tokio, New York oder Paris. Maroma, drei Millionen
Dollar Umsatz im Jahr, macht viele Geschäftsreisen nötig. In aller Welt werden
die Räucherstäbchen verkauft, sie seien besser als die meisten der
Konkurrenten. „Qualität ist wichtig, weil es ein Produkt ist, das auch Mutter
würdigen soll.“ Deshalb bekommen die Arbeiterinnen viel mehr als den indischen
Durchschnittslohn. Es gibt Sozialleistungen, die der DGB gern für seine
Mitglieder hätte. Als Gegenleistung wird erwartet, dass bei den acht Stunden
Arbeit kein Wort fällt. Hier arbeiten keine Aurovillianer, nur Tamilen. „Ein
paar haben es versucht, aber das klappte nicht.“ Zu verwöhnt? Er nickt.
Die Arbeit sei
hart: „Du bist hier in einem Land, in dem du jeden Tag deine Firma neu aufbauen
musst.“ Noch immer könne man nicht ruhigen Gewissens delegieren. Kontrolle sei
wichtig. Und man müsse die Leute jeden Tag neu motivieren. „Klingt wie im
Managerbuch gelesen, ich weiß, aber in Indien gilt das.“ Er sieht sich nicht
als Märtyrer, obwohl er sagt: „Was ich für Auroville leiste, wird nicht
geschätzt, aber das ist mir egal. Laura, Mutter, Sri, das reicht mir. Ich habe
oft Ärger, weil ich sage, was ich denke.“ Als er durch die Firma führt, sagt
er: „Arbeit zeigt dir den hässlichen Teil deines Selbsts.“ Er hat bei seiner
Arbeit viel mit Geld zu tun. „Ich bin kein Geschäftsmann, aber ich fasse Geld
an, meine Wahrnehmung von Geld ändert sich. Du musst darüber die ganze Zeit nachdenken.
Das ist wichtig.“
Paul macht den
Eindruck, als würde er viel nachdenken: über sich, über die Welt und vor allem
über Auroville. Aber erklären kann er Auroville auch nicht. Ihm sei nur
aufgefallen: „Hier ist eins und eins nicht zwei. Hier ist es etwas anderes.“
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Christian Litz Mai 2001