13. Mai 2018

2002 Kambodscha


KAMBODSCHA 

das Reich der Khmer mit seinem Weltkulturerbe - dem Königreich der 100 Tempel von Angkor 

Ein Land zwischen kultureller Ausbeutung und touristischer Vermarktung

Es ist noch dunkel, als ich den Rücksitz des kleinen Motorrades mit meinem kambodschanischen Führer besteige und mich mit lautem Geknattere in den ersten Stau des Tages einreihe.
Heerscharen von Besuchern wollen den Sonnenaufgang hinter der fünftürmigen Kulisse von Angkor Wat erleben, ein Anblick, der fast jeden Reise-katalog und Werbeprospekt über Kambodscha ziert. Am frühen Morgen erheben sich die Türme , die den Mittelpunkt des Hinduuniversums symbolisieren, dunkel gegen das Dämmerlicht des Himmels. Es ist eins der schönsten und größten religiösen Denkmäler, die je geschaffen wurden. Auch ich möchte noch vor der immer größer werdenden Touristenschar, die in den nächsten Jahren über das Land hereinbrechen wird, das Königreich Kambodscha besuchen.

 Ich will sehen, wie seine herrlichen Tempel und Monumente drei Jahrzehnte Krieg, Bürgerkrieg und Hungersnot überstanden haben und die in Gefahr laufen, immer mehr von einheimischen Banditen geplündert zu werden.
Angkor ist zum Synonym eins zu Stein erstarrten Traumes geworden. Das Wort steht für eine mythische Hoch-kultur aus der Zeit der Jahrtausendwende, die nach ihrer Blütezeit im tropischen Urwald versank und zweimal, 1860 und 1992, für die westliche Welt wiederentdeckt wurde. Angkor’s Umgebung hat die dichteste Ansamm-lung von Tempeln auf der Welt. Geographisch betrachtet umfaßt der Begriff Angkor eine Fläche von 232 qkm. Es ist die Seele des Volkes der Khmer und wurde 1992 zum Erbe der Menschheit gekürt und seine einzigartige Architektur und die romantische Lage inmitten eines verschwenderischen Urwaldes bringen selbst welterfahrene Kunstreisende zum Schwärmen. Fast alle Tempel sind noch wie bei ihrer Entdeckung eingehüllt in ein dichtes Kleid aus Grün, dessen riesige Bäume die Heiligtümer versteckt halten.
Das Königreich wuchs im 9. bis zum 14. Jahrhundert am Nordufer des Tonle Sap heran, am Großen See, der das geographische Zentrum des heutigen Kambodscha beherrscht. Im 12. Jahrhundert zählte Angkor, die Hauptstadt des Khmer-Königreichs, vermutlich rund 1 Million Einwohner. Von hier aus herrschten die mächtigen Khmer-Könige über ein ausgedehntes Gebiet.
Einer der Tempel - Ta Prohm – hat mich persönlich sehr beeindruckt, fast noch mehr als das große Angkor Wat. Er legt eindrucksvoll Zeugnis ab über die Vergänglichkeit der Menschenwerke und die Macht der Natur. Wie Tentakeln von
riesigen Kraken umarmen die mächtigen Wurzeln der Urwaldriesen die Türe, Fassaden, Portale und Mauern dieses Bauwerkes. Sie sprengen selbst die dicksten Wände, doch bewahren sie sie durch ihre Umklammerung, vorm Einsturz, wodurch sie gleichzeitig Zerstörer und Erhalter in einem sind. Die Zeit hat in Abwesenheit des Menschen hier ihr eigenes Kunstwerk geschaffen. Wurzeln huschen wie Schlangen durch dunkle, von Einsturz bedrohte Galerien. Das wilde Durcheinander von eingestürzten Türmen und Galerien macht den gesamten Tempel zu einem unheimlichen Labyrinth. Besonders zwei Bäume sind für diese zerstörerische Macht verantwortlich. Der Kapokbaum und die Würgefeige. Beide beginnen ihr Leben als kleine Setzlinge in den Nischen der Mauern und Dächer. Auf der Suche nach Nahrung lassen die feinen, dünnen Wurzeln keine noch so enge Fuge aus und wachsen schließlich über die Gebäude hinab ins Erdreich. Während Angkor Wat und die anderen Tempel Zeugnis von der Genialität der Khmer-Baumeister der Angkor Periode ablegen, bietet Ta Phrom uns ein Bild von der ungeheuren Fruchtbarkeit und immensen Kraft des Dschungels. 




Heutzutage ehren Buddhisten Angkor als heiligen Ort. Hier findet ein von Armut und Krieg gequältes Volk Zuflucht und Erbauung. Mit ausländischer Unterstützung sind kambodschanische Architekten und Kunst-historiker bemüht, das uralte Zentrum ihrer Identität zu restaurieren – und auf diese Weise zu retten.

Doch was tun gegen die vielen Plünderungen, die auch heute noch anhalten? Die Nachfrage nach Khmer-Kunst in den Vereinigten Staaten, Europa und Singapur ist erheblich gestiegen. Viele Soldaten und Polizisten, ausgestattet mit Kalaschnikows, sind bemüht, sich Tag und Nacht gegen die Diebstähle zur Wehr zu setzen – mit mehr oder weniger großem Erfolg. Die Plünderungen in den vergangenen Jahren haben mehr Verwüstung angerichtet als die Kämpfe vor und nach dem blutigem Regime der Roten Khmer. In Angkor Wat gibt es kaum noch eine frei stehende Statue , die noch einen Kopf hat, viele Kunstwerke sind komplett verschwunden. Das Nationalmuseum in Phnom Penh beherbergt in einem wunderschönen, in traditioneller Khmerarchitektur erbauten Gebäude eine Sammlung von geretteten antiken Skulpturen aus der Angkor-Periode. Wenigstens hier sind sie vor weiteren Plünderungen gefeit.


Nach 3 überwältigenden, jedoch auch sehr anstrengenden Besichtigungstagen, begebe ich mich auf die weitere Entdeckungsreise dieses faszinierenden Landes. Meine Einreise von Thailand nach Kambodscha (Aranyaprathet – Poipet) war doch recht abenteuerlich: 8.30 Uhr alleiniger Grenzübergang inmitten von kambodschanischen und thailändischen Händlern, anschließend 6 Stunden mit Minibus über eine Sandstraße mit 1.50 m tiefen Schlaglöchern. Die Vorstellung, in Kambodscha könnte man sich nicht frei bewegen ohne Angst haben zu müssen, auf eine Mine zu treten, ist falsch. Fast alle touristisch interessanten Plätze
sind frei von diesen heimtückischen Kriegswaffen. Doch werden die vermutlich drei Millionen Minen, die überwiegend in abgelegenen, vom Tourismus kaum berührten Gegenden noch im Boden versteckt sind, die Bevölkerung noch über Jahrzehnte hinaus gefährden.



Nach der Besichtigung des großen Königreiches von Angkor führt mich meine Reise nun weiter über den Tonle Sap-See Richtung Phnom Penh. Auf der 6-stündigen Fahrt auf Deck des Speedboates treffe ich einen Deutschen, der an meiner „Messetüte“ erkennt, dass ich aus Hannover komme und der mir dann sofort erzählt, dass er 3 Monate auf der Expo gearbeitet habe und wie toll er doch diese Veranstaltung gefunden habe und die Messe insbesondere findet. Mit stolz geschwellter Brust erzähle ich ihm dann, dass ich sogar bei dieser tollen Messe arbeiten würde und er versinkt in Staunen. Tja, so kann man sogar ungewollt mit so einer “blöden“ Tüte in fernen Landen Werbung für die Messe machen!!!!



Phnom Penh, die heutige Hauptstadt Kambodschas scheint getrieben von einer Aufholjagd. Mit einer begeisternden Dynamik versuchen die Menschen, die über 20 Jahre ihres Lebens durch Bürgerkrieg verloren haben, den Anschluss an das moderne Asien zu erreichen. Monat für Monat steigt die Anzahl der Mopeds und Autos spürbar an.





Der Reiz des heutigen Phnom Penh liegt darin, dass es, obwohl auf dem Weg zu einer typisch asiatischen Großstadt, trotzdem seinen provinziellen Charme noch nicht verloren hat. Die Stadt ist noch weit davon entfernt, ein verpesteter Moloch wie Bangkok zu sein. Asiatisch sind die Menschenmassen, die die Straßen und Märkte beleben, chinesisch die Geschäftsleute, international die Gastronomie und alles vermischt mit einem Schuss französischen Flair. Erstaunlich schnell ist Phnom Penh wieder zu einer relativ reichen Stadt geworden, die sich stark von der armen Provinz absetzt.

Überall in der Stadt trifft der Besucher auf Relikte der französischen Kolonialzeit, die von einer wahrlich beeindruckenden Epoche zeugen und Phnom Penh ihren unverwechselbaren Stempel aufgedrückt haben. Prachtvolle, im Jugendstil erbaute Villen mit blühenden Bäumen bepflanzte Boulevards und frische Baguettes an den Straßenecken machen den Einfluss der „Grande Nation“ übersehbar. Ein Besuch in der Silberpagode mit seinen 5000 Silberfliesen und dem Nationalmuseum lassen ahnen, wie reich einmal Phnom Penh war. Obwohl mich ein Mopedtaxifahrer auf der Fahrt in mein Gästehaus am Abend „in the middle of nowhere“ aussetzt, kein Englisch spricht und nicht weiß, wo wir uns befinden, bin ich sehr angetan von den freundlichen und immer lächelnden Menschen mit dem Krama, dem bunt karierten traditionellen Baumwollschal, ein wichtiges Kleidungsstück und ein vielfach verwendbarer Gebrauchsgegen-stand im Leben der Khmer.

 Zum Abschluss meiner Reise in Kambodscha möchte ich noch ein wenig ausspannen und fahre nach Sihanoukville, Kambodscha’s einzigem Seehafen mit mehreren wunderschönen ruhigen Stränden am Golf von Thailand. Auch hier säumen prächtige Villen und Hotels die kleine Straße an der Beach. Und wenn nicht die störenden Sandflöhe ständig pieken würden, wäre das Paradies vollkommen.
Mit dem Speedboat verlasse ich nach ein paar Tagen dieses beeindruckende Land (Grenze Koh Kong – Hat Lek) und ich geniesse es, dass ich eine von den ersten bin, die diesen Grenzübergang in Richtung Thailand benutzen darf, da er erst seit einem halben Jahr geöffnet ist.




Man sollte Kambodscha jedoch nicht bereisen, ohne sich die schreckliche Vergangenheit bewußt zu machen, unter der die Bevölkerung jahrelang gelitten hat. Darum einige Worte dazu:
Kambodscha war von 1863 – 1953 französisches Protektorat. Die heutige Monarchie wird von König Sihanouk geleitet, der seit 1993, nach 38 Jahren als Politiker, wieder in die Rolle des Königs geschlüpft ist und seither die Geschicke seines Landes lenkt. Nie wird hier jedoch die Schreckensherrschaft der Roten Khmer unter Pol Pot vergessen (1975 – 1979), bei dessen Namen den meisten Kambodschanern und Ausländern ein eisiger Schauer über den Rücken läuft. Zusammen mit seinen Helfershelfern leitete Pol Pot eine Revolution ein, deren Radikalität und Brutalität fast alles übertrifft, was die Menschheitsgeschichte aufzuweisen hat. Er wollte in Vietnam seine Ansprüche auf das einst von Khmer bewohnte Mekongdelta geltend machen. Vietnam vertrieb dann 1979 die Massenmörder. Der Bürgerkrieg ging jedoch noch bis 1989 weiter bis dann 1991 ein Friedensvertrag geschlossen wurde und nach der Wahl 1993 mit dem Sieg der FUNCINPEC und König Sihanouk sich wieder zum König gemachte hatte, endlich Ruhe einkehrte.

Nach dieser leidvollen Geschichte ist es um so weniger zu verstehen, dass ein Volk, das 2 Mio Menschen im Bürgerkrieg verloren hat, versucht, aus den Relikten der Vergangenheit Kapital zu schlagen, indem es aus dem ehem. Kriegsschauplatz einen Kriegsspielplatz macht und gegen harte Dollar-Währung (20 Schuss = 25 US §) die übrig gebliebenen Colts und Kalaschnikows an schießwütige Touristen aus aller Welt, die keinerlei moralische Bedenken haben, vermietet. Diese dürfen dann ihre perversen Wünsche nach Vernichtung auf einer so genannten Shooting Range, gemanaged vom kambodschanischen Militär, ausleben , indem sie auf Zielscheiben und, je nachdem wie blutig man es mag, auf lebendiges Geflügel schießen und mit Panzerab-wehrraketen auf 200 Dollar teure Kühe feuern, just for fun.

Ballermann und Urlaubsspaß in einem Land, in dem über den Massenmord an Menschen penibel Buch geführt wurde? Die Tourismusindustrie boomt und die Vermarktung Kambodschas nimmt ihren Lauf.



Annette Weirich 2002

2006/2007 Sylvester Livigno im Wohnmobil

Winter im Wohnmobil 2006/2007 in eisigen Temperaturen 

Wo und wie bin ich? Seit 3 Jahren weile ich über die Jahreswende mit meinem Hexenmobil in einem Tal zwischen Österreich/Schweiz/Italien, nämlich im zollfreien Ort Livigno, Italien. 

Alles fing vor 3 Jahren an mit einem Bericht im Internet: "Klein-Tibet in Europa. Sylvester im Wohnmobil bei 30 Grad minus". 
So etwas reizt natürlich einen zu Extremen neigenden Hexenkörper. Alles nur eine logische Entwicklung: Sommer in den Höhen des Himalaya's, also im Winter dem nimmer endenden Abenteuerdrang nachgeben und in schneereiche Gefilde ziehen.  

Nichts einfacher als das: Mein Hexenmobil - T 4 winterfest machen, Schneeketten griffbereit legen. Noch einmal Männer-Schnellkurs zum Anbringen dieser Dinger! Langlaufskier wachsen. Lebensnotwendiges Futter für den Körper und Literatur für den Geist einpacken sowie Musik für das stimmige Körpergefühl. Kerzen! Und Decken, Decken, Decken. Denn mein wärmeverwöhnter Körper mag solche Außentemperaturen auch nur in Grenzen. 

Wie immer begleiten mich ein paar Gefährten der Mitfahrzentrale bis Ulm. Eine lustige Fahrt in den Süden beginnt. Nach 600 km fordert mein "Besen" auf Rädern ein paar Stündchen Ruhe. Die soll er bekommen. Auch die Hexe freut  sich auf eine Mütze voll Schlaf auf einem süßen, ruhigen Hügel über einem Friedhof bei Memmingen. Was für einen beschaulichen Platz haben die hier Gebetteten. Dennoch bin ich dankbar für meinen lebendigen Zustand und schlafe selig ein. 

Der nächste Tag beschert der Scheeentgegenfiebernden das erste Glücksgefühl. Kurve um Kurve düse ich durch das grüne
Engadin. Dieses Jahr ist es ungewöhnlich mild wie überall in Europa, fast nirgendwo findet sich das ersehnte Weiß. Nähere mich dem Tal der Täler. Bis ich endlich mitten auf einem Pass vor einem dunklen Loch stationieren muss. Erst erreichen die entgegenkommenden Vierrädrigen die Freiheit. Ich winde mich nach dem letzten Gefährt einer Raupe gleich durch die enge Röhre. 

Nach 3.700 m wartet das Paradies auf mich. Links und rechts emporragende Berge. Ein 9 km ins Tal schlängelnder See erhöht noch das steigende Glücksgefühl. Und endlich kostbarer Schnee!! Wenn sich auch diese Jahr nicht die gewohnten Mengen durch's Tal wälzen, so bin ich doch glücklich über 20 cm dieses winterlichen Gutes. 

Mein Bus findet seinen wohlverdienten 10-tägigen Winterschlaf außerhalb des Ortes auf einer kleinen Anhöhe neben seinen Artgenossen. Meine Freunde sind bereits da und das Hallo ist groß. Nun heißt es erst mal Einrichen. Das bedeutet: Anschließen an die Elektrizität. Scheiben von innen und außen mit dicken Alu-Matten bedecken, mobile Womo-Zusatzheizung anschließen, Boden mit Thermomatten auslegen, Küche und Wohnraum gemütlich gestalten, lebensnotwendige Musik in Gang setzen. Der aus Hannover mitgebrache Tannenbaum wird im Schnee platziert, mit Kerzen ausstaffiert und der Genuss dieses Anblicks kann vom mobilen Wohnraum aus beginnen. Nicht zu vergessen: Wo Annette stationiert, müssen natürlich auch buddhistische Fahnen hängen. Also erhält der weiße Bus ein tibetisches, buntes Kleid. 


Am nächsten Tag erscheint um 10.10 Uhr die lachende Sonne und erfreut uns die nächsten 7 Tage. Wir frühstücken im Schnee und genießen das Leben. Manch einer unternimmt Abfahrtsskifahrten, mancher gleitet mit Schneeschuhen durch neu-gefallenes Weiß. Wieder andere genießen das Skaten mit Langlaufskiern. Jeder nach seinem Gusteau. 

Die meisten Winterreisenden können sich schwer einen Wohnmobilaufenthalt bei oftmals minus 33 - 38 Grad vorstellen. Ich kann nur sagen: Es ist ein Genuss der besonderen Art! Abends ist es interessanter, auf den Temperaturanzeiger zu schauen als in die Glotze. Wenn es 20 minus sind, wird's erst richtig spannend. Es wird gewettet, welche Temperaturen uns das Wetter diese Nacht bescheren wird. Gemütlich bei Kerzenschein, gutem Essen und Gesprächen oder spannendem Buch lässt es sich aushalten. In meinem Bus ist es meistens so wohlig warm, dass ich im T-Shirt koche. Mein "Badezimmer", bestehend aus einem klappbaren Waschbecken, einer Toilette und einem Kleiderschrank, wird nicht beheizt. Dies ist meine Eiszelle, prädestiniert zum Einfrieren von Lebensmitteln. Sie sind bei Außentemperaturen von minus 30 Grad innerhalb von 60 MInuten gefroren. Im Gegensatz dazu ist der Kühlschrank eine Sauna, wohlige 4 Grad. Klar kann es auch mal passieren
(wenn ich nachts eine der Heizungen ausschalte), dass über Nacht mein Gas in der 5 l Gasflasche einfriert. Dann muss ich eben auf meinen heißen Tee warten bis die Sonne kommt. Ich nehm's mit Humor. Normalerweise habe ich fließendes Wasser einschl. Frischwasser- und Abwassertank. Aus Erfahrung weiß ich, dass das Wasser durch die außen-liegenden Tanks sofort gefriert. Also nutze ich mobile Kanister mit Wasser, was auch nur wenig störend ist. Frau ist ja flexibel! 

Manchmal friert die Schiebetür so ein, dass sie nicht mehr zu schließen ist. Ein Türschlossenteiser hilft, sie wieder gangbar zu machen. Im ersten Jahr ist das restliche Wasser in der Wasserleitung gefroren, hat den Wasserhahn hochgedrückt und demoliert. Tja, kann passieren, aus so etwas lernt man. 
Eine Decke wird vor die Schiebetür gehängt, damit keine Kaltluft eindringen kann. Die sanitären Anlagen auf diesem Stellplatz sind vorzüglich und ich muss auf nichts verzichten. Allerdings - ich muss zugeben, ich bin immer wieder froh, dass ich über eine exzellent funktionierende Blase verfüge. So erspare ich mir ein unangenehmes, nächtliches Geschlittere zum Klo. 

Sylvester mit Lagerfeuer und Grillen
In diesem Winter ist alles ein bisschen moderater. Die tiefsten Temperaturen liegen nachts bei minus 15 Grad. Am Tag kommen wir in die Sonne auf plus 5. Wenn sie um 15.00 Uhr hinter den Bergen verschwindet, wird es vorübergehend ungemütlich und wir verziehen uns erst mal in unsere Räumlichkeiten. Trinken Cappuccino. Dann Bummel durch den Ort. Zollfreie Waren genießen: Alkohol, Zigaretten, Parfüm etc. fordern geradezu dazu auf, aus ihren Schaufenster erlöst zu werden. Übrigens - Diesel 0,65 Euro!! Da kommen einem glatt die Tränen, wenn man an die deutschen Tankstellenpreise denkt. Oft komme ich keuchend und schleppend aus dem Ort zurück. Der anschließende Genuss ist köstlich! Abends trifft man sich im Zentrum der Mobile und es wird getalkt, gescherzt und getanzt. Nachts, liegend in meinem  Hochbett, schaue ich auf meinen Tannenbaum und auf den monderleuchteten, glitzernden Schnee. Es klopft und einer ruft: Mach's Fenster auf, wir haben was für dich. Ein Gläschen eisiger Limoncello oder heißer Bombardino fliegen ins warme Bett. Wir machen noch eine Runde Blödsinn! Kann's mir noch besser gehen?

Es wird im großen Aufenthaltsraum traditionsgemäß ein Ballon gebastelt, der am Neujahrstag seine Reise in den azurblauen Himmel beginnt. Sehnsuchtsvoll verfolgen wir seinen Flug über die Berge. 

Auf einem der umliegenden 3.000 m hohen Berge komme ich mir vor wie im richtigen Himalaya. Es ist einfach traumhaft. 

Witzig ist, wenn nach Tagen des Stehens der erste Wohnmobilfahrer sein Auto starten will. Ein richtiges Großereignis. Alle rennen hin, um entweder Starthilfe zu leisten oder sich an dem Anblick des qualmenden Ungetüms zu erfreuen. 


Ich bin auch wie jedes Jahr fürchterlich aufgeregt, ob meine "Hexe" anspringt. Aber - no problem wie die Inder sagen. Alles paletti. Seit dem 1.1.2007 schneit es, wir einen richtigen Schneesturm. Und ich muss bei inzwischen hohem Schnee gen Heimat! Schließlich warten die Messen 2007 auf mich. Ach du liebe Güte! Manche sagen: Schneeketten aufziehen, andere meinen: Nein, meine guten Winterreifen reichen aus. Ich lasse es darauf ankommen und düse ohne Ketten los. In den Tunneldurchfahrten geht's auch noch gut. Aber dann kommt die Passabfahrt den Ofenpass hinunter, oh Himmel! Da flattern mir doch die Knie. Straßen völlig vereist und rutschig. Ein Schneeschieber kommt mir entgegen. Das Ungetüm mein: du oder ich! Es ist sich der Kraft des Stärkeren bewusst und nimmt sich den Vortritt. Ich muss bremsen, rutsche dabei so gaaanz langsam an die Leitplanke. Rechts geht's so mal eben lockere 300 m runter. Na toll. Ich komme zum Stehen. Den Monsterlenker begleiten meine Flüche bis ins Nirvana. Mit ziemlicher Anspannung bringe ich die anstrengenden 2 Stunden durch den Schweizer Engadin hinter mich. 

Nach 900 km erreiche ich wieder den schneelosen, tristen Norden. Ich bin glücklich, wenigstens einmal in diesem Winter das kostbare Weiß genossen zu haben. 

Annette Weirich 2007 


2000 Indien - Auroville

Bemerkung aus dem Jahre 2018: 
Dieser unten stehende Bericht wurde 2000 gechrieben. Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, dass ich Auroville inzwischen differenzierter und kritischer sehe. Die Entwicklung ist auch an diesem immer noch ungewöhnlichen Platz nicht vorbei gegangen, was, wie mit allen Orten dieser Welt,  positiv und negativ zu sehen ist. Meiner Meinung nach ist es nun ein (teurer) Ort der esoterischen Mainstream-Verwirklichung für Middleager aus Europa geworden, die in der in dem Alter üblichen Lebenskrise stecken. Seit dem Jahre 2005 war ich nicht wieder in Auroville und habe auch keinen weiteren Besuch geplant.
Ein aktueller Bericht aus dem Jahre 2018 von Jörg Heuer, David Klammer ist unten angehängt. Zusätzlich ist noch ein Bericht aus dem Jahre 2001 von Christian Litz angehängt.

 

Milleniumsfeier im Jahre 2000 in Auroville - Stadt der Zukunft

Auroville ( Bedeutung: Stadt der Morgenröte), gelegen in Südindien, in der Nähe des kleinen, französisch geprägten Ortes Pondicherry, 100 km von Madras und 5 km vom bengalischen Ozean entfernt, ein einmaliges Projekt auf dieser Welt. Ich will versuchen, den Sinn dieses Ortes zu erklären, in dem ich die beeindruckendste Sylvesterfeier meines Lebens erlebt habe.








 

 Wie hat es angefangen?

Der Impuls zu dieser Stadt kam in den 60er Jahren von einer Frau, der Französin Mirra Alfassa, genannt „Die Mutter“. An der Seite des indischen Evolutionsphilosophen und Yogi Sri- Aurobindo leitete sie den Sri Aurobindo Ashram in Pondicherry, doch sie wollte mehr als diese Schülergemeinschaft. Sie wollte eine universelle Stadt bauen, in der Männer und Frauen aller Länder in Frieden und zunehmender Harmonie leben können, jenseits aller Glaubensbekenntnisse, politischer Richtungen und Nationalitäten. Auroville‘s Aufgabe sollte darin bestehen, menschliche Einheit zu verwirklichen. Am 28.02.1968. versammelten sich 15.000 Menschen aus 124 Ländern auf dem Auroville-Plateau. Sie alle deponierten Erde aus ihrer Heimat in dem neu errichteten Amphitheater in einem Gefäß, welches die globale Verbundenheit symbolisieren soll.

Wie sieht Auroville heute (im Jahre 2000) aus?




 

Aus der vertrockneten Einöde wurde ein üppiges Biotop und die 2 Millionen gepflanzten Bäume wurden zum Symbol für organisches Wachstum. Heute leben und arbeiten hier ca. 1400 Menschen aus rund 28 Ländern. Es gibt imposante Lehmbauten und solide Häuser, in denen einheimische Techniken, ökologischer Pragmatismus und blühende Phantasie eine gelungene Verbindung eingegangen sind. So manch Architekt lebt hier seine Phantasien aus, meistens mit dem Gedanken des gemeinsamen Geistes von Auroville. Viele Häuser sind vorbildlich mit Solartechnik, Biogasanlage und Brauchwassernutzungssystem ausgestattet. Mehrere Biofarmen und die privaten Gemüsegärten ackern auf das Ziel der Selbstversorgung zu. Etwa die Hälfte des Bedarfs an Obst, Gemüse und Getreide kommt inzwischen aus dem Eigenanbau.




Für die Gesundheit sorgt ein Zentrum, das ständig wächst und kostenlos allen zur Verfügung steht. Von klassischer Schulmedizin über Homöopathie bis zu Reiki, Massage und der traditionellen indischen Aryuveda-Medizin ist alles vertreten.

Um die Bildung kümmern sich Kindergärten und 3 Schulen. Die höheren Schulabschlüsse werden in Pondicherry im französischen Gymnasium absolviert, studiert wird oft im Ausland.

Wirtschaftliche Situation von Auroville:
Die Stadt ist von zusätzlichen Spenden abhängig und bekommt sie vor allem für die ökologischen Projekte und die Entwicklungshilfe. Öffentliche Geldgeber von Auroville sind u. a. UNESCO, EG, nationale und internationale Stiftungen, französische und andere Ministerien, Unternehmen, Institutionen und Verbände.
Die indische Regierung finanziert einen großen Teil der Wiederaufforstungskosten. Doch die Auroville-interne Landwirtschaft trägt sich selbst. Rundgerechnet kann etwa ein Drittel der Aurovillianer ganz von hiesiger Arbeit leben, ein weiteres Drittel lebt teils von Auroville, teils von Erspartem oder Dazuverdientem und das letzte Drittel braucht überhaupt kein Geld von Auroville und lebt aus Zinserträgen, Erbschaften, Renten u. ä. In den Betrieben herrscht weitgehende Finanzautononomie und nicht nur das Einkommen wird untereinander ausgehandelt, sondern auch, was an Auroville abgegeben wird. Angestrebt ist zwar, 30 % des Gewinns abzugeben, doch die Abgaben bleiben freiwillig. Aurovillianer zahlen einen geringen Beitrag monatlich in einen zentralen Fond, in den auch die Abgaben von Gästen , die Beiträge der Newcomer, die Abgaben der Produktionsstätten sowie zweckungebundene Spenden fließen. Aus diesem zentralen Fond werden außer der Infrastruktur und den Serviceleistungen wie Strom und Wasser auch die Unterhaltszahlungen bestritten. Zusätzlich gibt es eine Art Kindergeld und für individuelle Notfälle bleibt ein Sondertopf.

Kommunikationsmittel sind interne monatl. Zeitschriften, Telefone sowie - forciert durch die eigene Elektronikfirma Aurelec - viele Computer einschl. Internet sowie Fax-Geräte. Wichtigstes Medium aber sind die zahllosen Meetings und Arbeitsgruppentreffen.

Arbeitsplätze bietet Auroville sowohl im Rahmen der Entwicklungshilfe als auch in der ökologischen Forschung oder in der Bildungsarbeit. Außerdem gibt es mittlerweile 60 Betriebe, vom Ein-Frau-Betrieb bis zum mittelständischen Unternehmen mit Hunderten von Mitarbeitern. Produziert wird Kunsthandwerk und Kleidung sowie Nützliches für Auroville und Indien: Bautechnik, Windmühlen, Ziegelpressen, Elektronik, Elektroteile, aber auch Räucherstäbchen, Lampenschirme, Holzspiele und Hängesitze.

Geliebt und gelebt wird hauptsächlich in Zweierbeziehungen und das Modell der Kleinfamilie hat hier keineswegs ausgedient. Das Familienleben erweitert sich durch den Faktor Gemeinschaft, in der die Kinder überall ein- und ausgehen.

Den Mittelpunkt von Auroville bildet die Zone der Ruhe, des Friedens und der Meditation und da, wo sich sonst Rathaus und Kirche befinden, steht das Matrimandir - die Meditationskugel.


Sie ist die Seele des Ganzen. Das Innere dieses Bauwerkes besteht aus einem beeindruckenden Hauptraum mit einer leuchtenden Kugel im Zentrum – ein Platz der Konzentration und Stille, in dem ich zu meinem eigenen Erstaunen seit langer Zeit mal wieder richtig zu mir selber gefunden habe. Da , wo Leute sonst durch Einkaufszentren hetzen, kann man hier durch die Gärten wandeln , im Amphitheater verweilen oder Ruhe und Konzentration üben. Um dieses Zentrum drehen sich die vier Zonen spiralförmig nach außen, die Wohnzone, die Arbeitszone, die Kulturzone und die internationale Zone.



Ich möchte unbedingt betonen, dass Auroville keineswegs eine Art New-Age-Zentrum ist. Angeboten werden allenfalls Yoga-Kurse, energetische Heilmethoden wie Reiki und Tanzgruppen. Die Stadt will kein therapeutisches Reiseziel werden. Oft bieten Gäste ein besonderes Seminar an und sind froh, aktiv etwas beitragen zu können. Das ist eine gute Form, Auroville für sich zu erobern. Allgemein gilt: In Auroville geht jeder seinen Weg individuell und trägt sein Päckchen allein.

Gast sein

Charakteristisch für den Gast in Auroville ist, hin- und hergeworfen zu sein zwischen Verzweiflung und Begeisterung. Verzweiflung über all das, was nicht klappt, über lähmende Hitze oder zermürbenden Dauerregen, Begeisterung, weil man gerade eine spontane Einladung von einem überaus netten Aurovillianer bekommen hat, weil alles so weit, großzügig und herrlich urspünglich ist, ohne Ampeln, Schilder und Regeln, Begeisterung über die wunderbare Natur mit all den



Streifenhörnchen, Vögeln, Pferden und Ochsen, über lange Abende unter klarem Sternenhimmel. Begeisterung über den Strand und das Meer, das sich – wie Auroville – täglich von einer anderen Seite zeigt. Ich wohne in einem eigenen kleinen Guesthouse mitten zwischen Wald-, Wild- und Obstbäumen, umrundet von Wasser und während des gemeinsamen Frühstücks und Abendessens an einem langen Tisch unter Bananenbäumen neben dem Swimmingpool wird ausgelassen gelacht und gescherzt – man macht sich auch oft über Auroville lustig, denn glücklicherweise wird auch hier nicht alles so bierernst gesehen. Wenn man sich wie ich mit dem Moped auf den roten Sandstraßen fortbewegt, ständig von irgend jemanden, den man gerade kennengelernt hat, gegrüßt wird, sich mittags in der Solar-kitchen trifft, nicht urlaubstypische, sondern tiefe Gespräche führt, nette Menschen aus aller Welt trifft, dann bekommt man schon das Gefühl der Wärme und des Familienlebens, das sich hier so anders gestaltet. Diese Lebensform ist ohne heimatlichen Berufsstress, ohne den üblichen Konkurrenzkampf und das Gefühl des Geborgenseins macht sich immer mehr breit. Ich stelle fest, dass es noch etwas Anderes gibt als Weltreisen und das Abhaken von Sehenswürdigkeiten. Meine anfänglichen Bedenken, nämlich dass dies ein Ashram bzw. eine Sekte sein könnte, wurden zerstreut. Mir wurde klar, dass dies wirklich ein Ort jenseits aller Glaubensbekenntnisse ist und für mich „Die Mutter“ sowie Sri Aurobindo lediglich eine Art Schutzheilige dieses Ortes sind.

Die Milleniums-Feier habe ich in besonders liebevoller und warmer Erinnerung. Nach einem recht unterhaltsamen und lustigen Essen mit Freunden wurde dann die ganze Nacht unter sternenklarem Himmel gefetet und getanzt. Gegen 5.00 Uhr wurden wir im Amphitheater mit einer Blume begrüßt, um uns herum ein Meer von Kerzen und riesige, liebevoll arrangierte Blütengebilde auf dem Boden.




Es wurde ein Lagerfeuer entfacht, viele Einwohner von Auroville, Gäste sowie ca. 600 indische Besucher aus der Umgebung waren mucksmäuschenstill, sehr schöne ruhige Musik untermalte die feierliche Stimmung und jeder gab sich seinen eigenen Gedanken zum Jahrtausendwechsel hin. So langsam kroch dann gegen 6.00 Uhr der Morgen hervor und es wurde hell. Die Sonne des nächsten Jahrtausends erschien langsam am Horizont. Ein einmaliges Erlebnis, das ich nie vergessen werde!

Pondycherry am indischen Ozean,  20 Minuten von Auroville, 3 Stunden von Chennai (früher Madras) entfernt:



Was es ist              

Es ist die Stille mitten im Trubel des Ganzen
es ist das Gefühl des Friedens
es ist der gemeinsame Geist
es ist die Suche nach Sinn
es ist Geborgenheit und Gelassenheit
es ist ein Ort der den Sinnen schmeichelt
es ist ein Ort des gedanklichen Austauschs
es ist ein Ort der uns der Erkenntnis ein Stück näherbringt
es ist ein Ort der Meditation und Versenkung
es ist ein Ort der Hoffnung gibt

A u r o v i l l e    -    eine Vision wird wahr

(Gedicht von Annette Weirich aus dem Jahre 2000)


Aktueller Bericht von Jörg Heuer und David Klammer aus dem Jahre 2018 über Auroville siehe hier:





 

Wer noch mehr wissen möchte, bitte unten lesen:

Alltag im Paradies

(Bericht aus - brand eins – Wirtschaftsmagazin, 2001 brand eins Verlag)
Autor Christian Litz

Auroville wurde 1968 von dem Philosophen Sri Aurobindo gegründet. Es sollte ein Ort ohne Eigentum sein, aber voller spiritueller Energie. Heute gibt es in der Gemeinschaft in Indien Geld und Ungleichheit. Doch die Utopie existiert immer noch. Sie hat überlebt, weil es Menschen gibt, die sie leben.

----- Der Zyklon schlägt hart zu, der schlimmste, der Indien in den letzten 50 Jahren traf. Bäume knicken, Häuser brechen, Dächer fliegen, Motorräder wirbeln, Wasser kommt von oben, von der Seite, von unten. Ein Mungo, eine Marderart, sonst immer nur am Boden, fliegt in etwa einem Meter Höhe über die Straße und dreht sich dabei um sich selbst. Ein unglaublicher Anblick. Aber: Ein fliegender Mungo ist nichts gegen Fred im Zyklon. Sitzt in der großen Küche der Gemeinschaft Aspiration und schält Kartoffeln. Fred ist Würde. 60 Jahre, Senatoren-Ausstrahlung, sein Haare sind grau und dick, die Falten um seinen Mund perfekt, seine Haltung kerzengerade. Fred kann selbst beim Kartoffelnschälen den Edelmann geben. Er erzählt von früher. Die Küche ist auf einer Seite offen, nur ein paar Pfosten, keine Wand. Bäume krachen, die Geräusche sind laut und schrecklich, das schöne Mädchen links von ihm, in Auroville geboren, schneidet Tomaten und kreischt ängstlich. In Aspiration wird mehrmals die Woche gemeinsam gegessen. Viele der Communities machen das, obwohl es die Großküche gibt, die alle versorgen kann. Das Essen in den Communities ist eine soziale Veranstaltung. In Aspiration haben alle irgendwann Küchendienst. Heute Fred und das Mädchen. Der Tisch in der Mitte des Raumes ist nass. Strom gibt es schon lange nicht mehr. Werden morgen noch alle leben? Fred war dabei, als Auroville gegründet wurde, 1968. Er kannte Mutter noch persönlich.

Wie es begann und was es wurde: vom Traum eines Yogi zu einer internationalen Gemeinschaft, in der alles allen gehört.

Mutter? Ja, Mutter. Ein Rückblick: Sri Aurobindo, in England aufgewachsener Inder, kommt 1893 zurück nach Indien, wandelt sich vom Revolutionär zum friedlichen Philosophen und Yogi. Er sagt: Alles Leben ist Yoga. Und: Der Mensch ist nur eine Zwischenstufe der Evolution. Sri lernt Mutter kennen, eine Französin, die früher in Japan gelebt hatte. Die beiden ergänzen sich, so, wie sich in Indien Mann und Frau oft ergänzen. Er ist für die abgehobeneren Belange des Lebens, also Philosophie, Politik und Ähnliches zuständig, sie für das Praktische, Organisation, Finanzen. Er schwebt, sie regelt den Alltag. In Pondicherry, südlich von Madras am Golf von Bengalen, entsteht ein Ashram, ein religiöses Zentrum. Und die Leute kommen. Sris Regeln sind massentauglich, denn er ist nicht zu fordernd. Askese muss nicht sein. Man macht auch Yoga, wenn man auf dem Markt ein Huhn kauft oder verkauft. Er ist als Guru ein angenehmer Typ. Gut, das ist jetzt alles arg vereinfacht, er hat einige Bücher geschrieben, viel erklärt. Nur ein Zitat: „Der Mensch ist ein Übergangswesen; er ist nicht endgültig. Denn im Menschen und hoch über ihm steigen strahlende Stufen zu einer göttlichen Übermenschlichkeit empor.“ Und so weiter. In Auroville ist Sri, was für gläubige Katholiken der Papst ist.

   Sri stirbt Anfang der fünfziger Jahre, Mutter übernimmt. Sie ist in Auroville fast so heilig wie Sri. Sie sagte: „Auroville gehört niemandem im Besonderen. Auroville gehört der ganzen Menschheit.“ Und: „Es ist der ideale Ort für jene, die wissen wollen, welche Freude und Befreiung das Aufgeben von persönlichem Besitz mit sich bringt. Alles gehört der Gemeinschaft. Niemand ist berechtigt, über etwas als privates Eigentum zu verfügen.“ Und: „Geld wird innerhalb Aurovilles nicht benutzt werden. Auroville wird nur mit der Außenwelt Geldbeziehungen eingehen. Aurovillianer erhalten keine Gehälter.“ Da irrte Mutter, es gibt Geld in Auroville, Konten, so genannte Maintenances, statt Gehälter. Es gibt ein paar Gruppen, die versuchen, ohne Geld auszukommen, es gibt welche, die untereinander kein Geld tauschen, es gibt welche, die Geld wie Heu machen und es an die Gemeinschaft geben, es gibt auch reiche Aurovillianer. Die Ökonomie Aurovilles ist schwer zu verstehen, viele verschiedene Systeme existieren parallel nebeneinander, kaum jemand blickt durch. Worte, die immer wieder fallen, wenn die Leute versuchen, ihre Wirtschaft zu beschreiben, sind Flickenteppich und Mosaik.

   Bigi, etwa 60, aber jugendlich, aus Deutschland, arbeitete lange an der Cote d’Azur als Immobilienmaklerin, ist in Auroville für den Landkauf zuständig. Sie sammelt Spenden, in Europa, Indien, den USA. Die Landpreise steigen hier für indische Verhältnisse ins Unermessliche, Spekulanten machen eine schnelle Rupie. Sie erklärt stundenlang die wirtschaftlichen Verhältnisse und endet so: „Okay, das ist schwer nachvollziehbar, aber irgendwie funktioniert es. Auroville ist ein Erfolg.“ 1500 Menschen leben in Auroville, Mutter wollte 50000. Nur wenn man die Einheimischen in den umliegenden Dörfern, die stark von Auroville profitieren, dazurechnet, kommt man nahe an die 50000. 1200 Hektar Land gehören zur Gemeinschaft, gar nicht mal so viel. Auroville ist eine Ansammlung schöner Dörfer inmitten des in wenigen Jahren gepflanzten Dschungels. Alles ist grün, dicht, ab und zu Wiesen und Felder, Pfauen tapsen herum, alles wirkt friedlich, angenehm ruhig, eine schöne Umgebung. Viele tolle Gebäude, geplant und gebaut von Leuten, die ihrer Phantasie freien Lauf ließen, die keine Bauvorschriften zu achten hatten. Die meisten wohnen in Einfamilienhäusern, oft mit Solartechnik und Brunnen. Einige Villen wirken futuristisch, extravagant. Es gibt ein paar Apartmenthäuser, dazu Unterkünfte für junge Leute. Die Häuser gehören niemandem: Einer baut eins, lebt darin, überlässt es einem anderen, er bekommt nichts dafür, alles gehört der Gemeinschaft, ständig wird umgezogen. Dann gibt es noch viele Gästehäuser: Dezember, Januar, Februar ist Touristensaison, Auroville verdient in der Zeit einen wichtigen Teil seines benötigten Geldes, es wird Kurtaxe verlangt.

   1200 Hektar Land mit etwa 80 Communities, die so schöne Namen haben wie: Adventure, Acceptance, Arc en Ciel, Certitude, Eternity, Fraternity, Hope, Grace, Quiet, Reve, Simplicity und Verité. Discipline nicht vergessen, in Discipline leben lustigerweise vor allem Deutsche, Siegfrieds und Karins. Nachnamen hat niemand.

   Aus 50 Nationen kamen sie hierher. Laut Statistik sind 32 Prozent der Bevölkerung Inder, 18 Prozent Franzosen, 15 Prozent Deutsche, fünf Prozent Italiener, je vier Prozent Holländer und Amerikaner, drei Prozent Schweizer, dann folgt eine lange Liste mit allen möglichen Ländern. Jährlich kommen etwa 60 bis 80 neue Bewohner dazu. Die Zuzugsrate wird kontrolliert klein gehalten, die Geburtenrate ist sehr hoch. Intern, wenn über Faulpelze geschimpft wird, wird Auroville oft mit Kolonial-Allüren verbunden. Viele tamilische Frauen und Männer arbeiten für die Westler, natürlich bezahlt, putzen ihre Häuser, arbeiten auf den Feldern. Die Arbeit und die Bezahlung seien für die Tamilen attraktiv, die Frauen bekämen durch sie Freiheit von ihren Familien. Viele tamilische Kinder und Jugendliche gehen in Auroville-Schulen, die Frauen in den Dörfern bekommen Kredite vom Outreach Project Auroville, die medizinische Versorgung der Umgebung hat Auroville übernommen. Tamilische Familien wollen Aurovillianer werden. Man kann doppelt so viel Mitgift verlangen, wenn der Sohn eine Tamilin heiratet.

Wie es gedacht ist und wie es gemacht wird: der sanfte Selbstversorger Johnny und der harte Otto, zuständig für Finanzen.

Mutter starb 1973, in Auroville sagen sie: Sie verließ ihren Körper. Johnny ist 58, er kam Ende der sechziger Jahre aus Australien hierher und liebte die Idee,pflanzte Bäume, baute Häuser. Er erzählt von früher. „Wir hatten damals das beste Material, Pumpen, Werkzeug, wenn du was gebraucht hast, gabst du dem Anwalt einen Zettel, der ging zu Mutter, die zog ein paar Scheine unter dem Kissen hervor, auf dem sie saß, und du hast damit den Generator gekauft.“ Johnny sagt: „Geld war damals nicht knapp in Auroville.“ Viele reiche Leute brachten viel mit. Spenden kamen in Mengen. Die indische Regierung gab und internationale Organisationen, zum Beispiel die WHO, die UNESCO, die EWG. Zurzeit sind vor allem Inder, die im Silicon Valley reich wurden, die großen Spender. In Auroville konnte gebaut und gepflanzt werden. Viel Geld ging in ökologische Projekte. Früher war hier Wüste, jetzt ist Dschungel. „Inzwischen ist die Geldlage eng.“ Johnny braucht kein Geld: Alles, was sie in seiner Community, Fertile, essen, bauen sie selbst an, er trägt nur Klamotten, die in Auroville gemacht wurden. Kein Strom in Fertile, die Pumpen werden von Sonnenstrahlen angetrieben. „Unser Hauptziel ist Selbstversorgung.“ Für ihn ist Fertile ein Paradies.

   Der graubärtige Mann ist stolz auf einiges hier. „In Auroville machst du, was du machen willst. Wenn du hinter einem Schreibtisch sitzt und Papiere unterschreibst, dann machst du das, weil es dir gefällt, du musst es nicht wegen des Geldes machen.“ Weiter mit Begeisterung: „Wir sind hier Farmer, wir bauen an, was wir brauchen, so was gibt es doch heute kaum noch auf der Welt, es ist der reine Luxus.“ Allerdings normalisiert sich Auroville: Vor kurzem wurde ein Moped von einem Jugendlichen gestohlen, es gibt Drogen, ein Junge aus Auroville starb in Madras an einer Überdosis. Der indische Staat lässt Auroville machen: Kein indischer Polizist ist für die Gemeinschaft zuständig, die soll alles allein regeln.

   Johnny ist entspannt. Er meditiere zwar, mache auch Yoga, „aber hey, das ist kein Yogaregime hier, Leben in Auroville ist frei.“ Er ackert auf den Feldern, macht Jugendarbeit. Abends liest er, auf dem Holztisch unterm Palmdach liegt ein altes Satiremagazin, daneben ein Buch über Paul Klee und eines mit dem Titel „Natural Capitalism, Creating the Next Industrial Revolution“. Viele Bibliotheken gibt es in Auroville, Bücher, CDs, viele Konzerte, viele Tanzvorführungen, Kultur ist kostenlos und im Überfluss, Vorführungen von Filmen indischer Regisseure, ein Truffaut hier, ein Faßbinder da. Plakate kündigen an: Schubert, Brahms, Messian. Und so weiter. Aufführungen von Auroville-Bewohnern.

   Unter dem mit Palmblättern gedeckten Dach des offenen Gemeinschaftspavillons von Fertile: Johnny, der einen Lungi, einen Wickelrock trägt, schüttet Tee nach und sagt, was alle in Auroville sagen: „Haha, du willst mit Paul sprechen. Vergiss es, er wird keine Zeit für dich haben.“ Paul und Laura leiten Maroma, das ist die Firma – in Auroville heißt das Unit – die Räucherstäbchen produziert und seit Jahren der Gemeinschaft so viel Geld zukommen lässt, dass die damit zwei Drittel ihres Etats finanziert. Ohne Maroma gäbe es Auroville nicht mehr. Ohne Paul und Laura gäbe es Maroma nicht. Maroma liefert Geld, Geld wird gebraucht, abernicht gemocht, hat ein richtig schlechtes Image.

   Noch mal zurück zu Fred in der Aspiration-Küche während des Zyklons. Zwei indische Aurovillianer kommen in die offene Küche gerannt, schreien, dass Bäume umgefallen sind, einer auf Freds Haus. Fred nickt würdig, dann versucht er, Auroville zu erklären. Ein unmögliches Unterfangen, immerhin sagt er: „Wir versuchen, ein Leben zu leben, das nicht normalen Motiven folgt.“ Draußen tobt der Zyklon. Die Frage hier sei immer: Was kannst du beitragen? Später erzählt er von sich: Jemand aus seiner Familie hatte die Zeitschrift »Quick« gegründet. Fred machte 1959 in München Abitur, fuhr mit dem Frachter nach Indien, war hier und dort und landete im Ashram von Pondicherry, Mutter beeindruckte ihn: „Ich sah in ihre Augen und ging auf eine Reise. Ich wollte Mitglied im Ashram werden, ich saß im Garten und meditierte. Eines Tages öffnete ich die Augen, und da stand diese gut aussehende Schwedin vor mir. Ich wurde Stiefvater ihrer drei Kinder und hatte zwei eigene mit ihr.“ Wie alle Beziehungen in Auroville, fast ohne Ausnahme, geht auch diese in die Brüche. Das habe damit zu tun, dass die Frauen hier selbstbewusster seien und die Gemeinschaft sich um alle kümmere. Deshalb verließen alle Frauen ihre Männer, erklärt später jemand.

   Otto kam später als Fred nach Auroville. Otto ist Hardcore, so wie Johnny, nur, dass der entspannt wirkt. Otto dagegen hat, bei all seiner spürbaren Sensibilität, seiner leisen Nuschelstimme, eine Stalin-Aura. Er ist ein Überzeugungstäter, will die Menschen bessern, was viel Härte erfordert, von allen, denen, die gebessert werden sollen, aber auch von ihm. Er sitzt im ausgewaschenen blauen Hemd, mit schwarzem Schnauzer und einem traurig-müden Blick der Verzweiflung in „Roma’s Kitchen“, einem Restaurant. Die völlig unzeitgemäße Drahtbrille schief im Gesicht, redet er über Geld. Er ist dafür genau der Richtige. Der Österreicher verwaltet die klammen Finanzen der Kommune.

   Otto hat eine lange Geschichte hinter sich: Arbeitete bei einer Bank in Wien, stieg aus, machte zehn Jahre die Disco „Mississippi“, stieg wieder aus. Auf nach Auroville. Zehn Jahre blieb er in der Bäckerei. Die ist für viele Neuankömmlinge der erste Anziehungspunkt. Alle Leute, die hierher kommen, haben ein großes Bedürfnis, erst mal Bäume zu pflanzen und Brot zu backen. Mehr als zwei Millionen Bäume haben die Aurovillianer bisher gepflanzt, sie haben die Erosion gestoppt, einen Landstrich gerettet. Und ihr Brot ist gut. Eine Italienerin, die es verkauft, lächelt und sagt ernsthaft: „The backery is under german leadership.“ Ab und zu lacht man in Auroville über den Begriff „Oberbrotführer“.

Wie das Grundeinkommen in die Gemeinschaft kam, wofür es nicht reicht und was man dann dringend braucht: Geld.

Nach zehn Jahren Bäckerei managte Otto „Pour Tous“, den Supermarkt in Auroville. Pour Tous, französisch: für alle. Anfangs war der Supermarkt kostenlos. Die Leute holten sich, was sie brauchten, die Gemeinschaft finanzierte es. So funktioniert noch heute der Kleiderladen, der Kinderladen und einige andere Versorgungseinrichtungen. Pour Tous aber funktionierte so nicht. Otto, der Sanierer, zog ein, als nichts mehr, wirklich nichts mehr am Lager war, Geld sowieso nicht. Seine Reform: Jeder Aurovillianer bekam ein Konto. Darauf kam das Geld, das die Gemeinschaft jedem Einzelnen für geleistete Dienste gibt, die so genannte Maintenance. Da auch künstlerische Tätigkeiten oder spirituelle Leistungen mit Maintenance honoriert werden, schließlich ist alles und jeder wichtig für die Gemeinschaft, ist Maintenance eigentlich ein Grundbetrag zum Lebensunterhalt, der jedem zur Verfügung gestellt wird, egal, was er tut. Es ist ein bescheidener Unterhalt, aber er reicht zum Leben. Es gibt einige entspannte Nichtstuer in Auroville. Otto schimpft auf sie: „Ich habe mit vielen Leuten zusammengearbeitet, die an dem Tag, an dem sie Aurovillianer wurden, nicht mehr zur Arbeit kamen.“

   Die Wartezeit bis zur Aufnahme wurde deshalb von einem Jahr auf zwei erhöht, sagt Otto. Viele würden hier schnell zum Künstler. Kunst ist wichtig, klar, aber er mag das nicht so, er ist schließlich für die Finanzen zuständig. Die Idee sei: „Auroville versorgt die Leute, die geben dafür ihre Energie.“ Sein System bei Pour Tous funktionierte, Spenden wurden reingepumpt, die Leute konnten und können immer noch für einen bestimmten Betrag einkaufen. Spenden gibt es viele. Einige leben hier bescheiden, geben ihr Geld an die Gemeinschaft. Einige leihen es, es wird auf ein Konto gelegt, die Zinsen gehen an Auroville, das Geld gehört weiterhin dem Geber. Manche verdienen in Auroville viel Geld und geben viel ab. Wieder fallen zwei Namen: Paul und Laura, die Leiter der Räucherstäbchenproduktion. Otto sagt: Paul wird keine Zeit haben für ein Gespräch, der arbeitet 20 Stunden am Tag.

   Pour Tous funktionierte, alles lief. Otto stieg wieder aus, managte den Foreign Exchange, eine Art Bank, sie war in der Krise. Krise ist oft in Auroville, es ist faszinierend, wie krisentauglich die Aurovillianer sind, keine Krise macht sie richtig nervös. Otto bewährte sich auch dort, und als mal wieder große Krise war, wurde Otto überredet: Er war plötzlich für die Gesamtfinanzen zuständig. Das Erste, was er machte: Der Account aus dem Lebensmittelladen wurde Account für alles. Ob Bäckerei, Café, Internet oder Mittagessen in den Gemeinschaftsküchen, alles geht über den Account. Bargeld ist theoretisch nicht mehr nötig in Auroville. Das funktioniert aber nur begrenzt, schließlich wollen die meisten Moped fahren, ab und zu nach Pondicherry oder gut in Roma’s Kitchen speisen. Es gibt Möglichkeiten, in Auroville Geld auszugeben. Nur Kultur ist immer kostenlos und Spirit, also Yogakurse, die Selbstfindungssachen, die psychologische Betreuung, die Schulen für die Kinder, Kleider für sie, das kostet nichts. Aber Luxus schon. Auch ein bisschen Luxus. Es gibt Gründe, Bargeld zu haben. Otto managt nun die Finanzen, er arbeitet mehr als die fünf Stunden täglich, die die Gemeinschaft von jedem erwartet. Jetzt sitzt er in Roma’s Kitchen am Rande der Siedlung, auf der Terrasse. Mittagszeit, damit Otto keine Arbeitszeit verliert, das war eine Bedingung. Die andere: Du musst zahlen. Okay.

   Otto erklärt warum: Er ist ein Asket, lebt allein von der Maintenance. Deshalb auch die antike Drahtbrille. „Man muss bescheiden sein, ich habe ein Fahrrad, kein Motorrad, ein Motorrad ist teuer.“ Seine Frau, deren zwei Kinder und er leben von 13000 Rupien im Monat, etwa 500 Mark. Viele Aurovillianer gehen im Sommer für zwei, drei Monate nach Europa, jobben. „Ich finde das abartig, die kommen zurück, kaufen sich ein Motorrad oder so was, müssen sich noch zwei Monate erholen, fehlen hier im ökonomischen Prozess. Und sie haben einen zu hohen Lebensstandard für das, was wir hier produzieren.“

Was nicht funktioniert hat: von der gescheiterten Computer-Industrie und den Menschen, die gern Geschäfte machen wollten.

Es folgt Theo, einer der Computer-Jungs. Lange brachten die Computer-Units Geld nach Auroville, viel Geld. Es gab aber ein Image-Problem. Theo, deutsch, Computerfreak, seit 1986 in Auroville, erklärt die Organisation: „Mehrere Units sind zusammengefasst zu einem Trust, ich bin, Moment, wie heißt das“, er schaut nach, „ja, hier, Managing Trustee, das heißt, ich bin verantwortlich für alle Vermögenswerte, bewegliche und unbewegliche. Meine Unit ist Penta.“ Er klagt: „Business war in Auroville immer ein Schimpfwort. Bei unserem Unternehmen Aurelec aber hieß es: Business ist nötig, wir haben uns stark gemacht für Business. Paul bei Maroma war cleverer. Der hat einfach Geld gemacht, gegeben und den Mund gehalten. Wir haben das Maul aufgerissen und gesagt, Geld verdienen ist in
Ordnung. Meine Güte, wir waren unbeliebt.“ Aber erfolgreich.

   Angefangen haben sie mit Scannern für die Lederherstellung in indischen Betrieben. Das Ding tastete das Leder ab und sagte, wie groß es ist, wie viele Schuhe daraus zu machen wären. Danach bauten sie Computer. Kauften Teile in Taiwan, setzten in Auroville alles zusammen, als in Bangalore noch kein Computer stand. „1988 wurden wir IBM-kompatibel.“ Damals waren die indischen Einfuhrzölle mörderisch. Es war lukrativ, in Indien Computer zusammenzubauen. „Wir haben die Gehäuse aus Fiberglas in Auroville gemacht, die Einzelteile teilweise selbst gebaut, den Rest geholt. Wir hatten ein Korrosionsproblem, also haben wir eine Pulverbeschichtung entwickelt.“ Danach haben sie sich auf Netzwerke konzentriert, mit Novell kooperiert, waren da indischer Marktführer. „Wir hatten eine imposante Kundenliste.“ Die indische Bahn zum Beispiel benutzte Hardware aus Auroville.

Was prima funktioniert: von der Firma Maroma, die zwei Drittel der Finanzen reinholt, und ihrem Chef Paul, der den Luxus liebt.

Der Niedergang begann mit der Foundation, sie wurde 1992 gegründet. Ganz oben ist die Foundation, eine Art e.V., geleitet von Otto. Darunter die Trusts, unterteilt in Units. „Wir haben gesagt, um Geschäfte zu machen, ist die Foundation Scheiße.“ Weil sie gemeinnützig ist, keine Aktien haben darf, weil ihr der Boden gehört, bekommen die Units und die Trusts keine Kredite von Banken, sie haben keine Sicherheiten, ihnen gehört nichts. „Venture Capital kannst du vergessen, die spucken nicht mal auf dich. Die Restriktionen kamen alle von Auroville, nicht vom indischen Staat, wir haben uns selber gelähmt.“ Nach und nach machten sich die Computerleute selbstständig, Aurelec spaltete sich in Privatfirmen, die gingen nach Pondi und Madras. Theo: „Paul hat ein heiliges Produkt gemacht, Räucherstäbchen, das war in Ordnung, aber Computerbusiness wurde hier gehasst.“

   Es gibt zurzeit etwa 100 Units, nur wenige machen Gewinn. Sie produzieren Stoffe, Kleidung, Schuhe, übersetzen via Internet in viele Sprachen der Welt, betreiben Läden, reparieren Fahrräder, stellen Sonnenkollektoren und Biogas-Tanks her, restaurieren Möbel, betreiben ein Reisebüro. 100 Units, wenige Geldbringer. Die große Ausnahme: Maroma. Maroma sieht aus wie eine Festung, hohe Mauern drumherum, Wächter in Uniformen am Tor, alles völlig untypisch für das Leben hier. Beim Chef, Paul, muss man einen Termin beantragen. Aber er nimmt sich zwei Stunden Zeit. Es werden zwei Tage, weil Paul sehr kommunikativ ist. Paul ist 50 Jahre alt, kam mit 24 hier an und fühlt sich seitdem wie 24. Er hat graue kurze Haare, trägt ein weißes Seidenhemd, gekauft in Kyoto, steht auf Luxus, sagt er später. Laura, seine Partnerin, und er haben einen Swimmingpool in ihrem Garten. Sein Lächeln ist dezent, wissend, ehrlich. Paul liebt Auroville und mag Mauern, sie machen frei. „Mauern schaffen Grenzen, dein Hirn kann sie dann überfliegen.“ Maroma ist die Auroville-Erfolgsgeschichte. „Man kann das Wachstum nicht auf Papier erklären, Mathematik arbeitet hier nicht. Je mehr wir ausgeben, desto mehr kriegen wir zurück. Wir investieren gern, wir mögen Schönheit, und dafür muss man nun mal bezahlen.“ Wie die meisten Aurovillianer sieht Paul jünger aus als er ist.

   Paul ist Algerier, kam nach Frankreich, arbeitete als Apotheker, kam nach Auroville. Maroma, zusammengesetzt aus Mutter und Aroma, begann 1976 als erste Unit. Er war, nach einer Zeit in der Bäckerei und in der Bibliothek, kurz dabei, wurde dann aber erst mal Landwirt. Auroville erklärt er so: „Es ist ein Menschheitsexperiment. Geld ist hier nicht Gesetz, nichts gehört einem. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, bist du falsch in Auroville. Hier brauchst du einen anderen Motor.“ Nein, Geld sei nicht sein Motor, ja, er arbeite viel. „Es gibt hier fleißige Leute und Leute, die ihren Vorteil suchen.“ Einfach hinschmeißen ginge aber nicht, trotz der Vorteilssucher, weil darunter auch die wahren Aurovillianer zu leiden hätten. „Wir müssen eine andere Art Leben entdecken. Die Erde braucht
das, sie ist in keinem guten Zustand, es muss sich etwas ändern.“
   Was Paul braucht, sei Shopping, in Bombay, Tokio, New York oder Paris. Maroma, drei Millionen Dollar Umsatz im Jahr, macht viele Geschäftsreisen nötig. In aller Welt werden die Räucherstäbchen verkauft, sie seien besser als die meisten der Konkurrenten. „Qualität ist wichtig, weil es ein Produkt ist, das auch Mutter würdigen soll.“ Deshalb bekommen die Arbeiterinnen viel mehr als den indischen Durchschnittslohn. Es gibt Sozialleistungen, die der DGB gern für seine Mitglieder hätte. Als Gegenleistung wird erwartet, dass bei den acht Stunden Arbeit kein Wort fällt. Hier arbeiten keine Aurovillianer, nur Tamilen. „Ein paar haben es versucht, aber das klappte nicht.“ Zu verwöhnt? Er nickt.

   Die Arbeit sei hart: „Du bist hier in einem Land, in dem du jeden Tag deine Firma neu aufbauen musst.“ Noch immer könne man nicht ruhigen Gewissens delegieren. Kontrolle sei wichtig. Und man müsse die Leute jeden Tag neu motivieren. „Klingt wie im Managerbuch gelesen, ich weiß, aber in Indien gilt das.“ Er sieht sich nicht als Märtyrer, obwohl er sagt: „Was ich für Auroville leiste, wird nicht geschätzt, aber das ist mir egal. Laura, Mutter, Sri, das reicht mir. Ich habe oft Ärger, weil ich sage, was ich denke.“ Als er durch die Firma führt, sagt er: „Arbeit zeigt dir den hässlichen Teil deines Selbsts.“ Er hat bei seiner Arbeit viel mit Geld zu tun. „Ich bin kein Geschäftsmann, aber ich fasse Geld an, meine Wahrnehmung von Geld ändert sich. Du musst darüber die ganze Zeit nachdenken. Das ist wichtig.“

   Paul macht den Eindruck, als würde er viel nachdenken: über sich, über die Welt und vor allem über Auroville. Aber erklären kann er Auroville auch nicht. Ihm sei nur aufgefallen: „Hier ist eins und eins nicht zwei. Hier ist es etwas anderes.“ -----|

Christian Litz        Mai 2001