13. Mai 2018

2000 Indien - Auroville

Bemerkung aus dem Jahre 2018: 
Dieser unten stehende Bericht wurde 2000 gechrieben. Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, dass ich Auroville inzwischen differenzierter und kritischer sehe. Die Entwicklung ist auch an diesem immer noch ungewöhnlichen Platz nicht vorbei gegangen, was, wie mit allen Orten dieser Welt,  positiv und negativ zu sehen ist. Meiner Meinung nach ist es nun ein (teurer) Ort der esoterischen Mainstream-Verwirklichung für Middleager aus Europa geworden, die in der in dem Alter üblichen Lebenskrise stecken. Seit dem Jahre 2005 war ich nicht wieder in Auroville und habe auch keinen weiteren Besuch geplant.
Ein aktueller Bericht aus dem Jahre 2018 von Jörg Heuer, David Klammer ist unten angehängt. Zusätzlich ist noch ein Bericht aus dem Jahre 2001 von Christian Litz angehängt.

 

Milleniumsfeier im Jahre 2000 in Auroville - Stadt der Zukunft

Auroville ( Bedeutung: Stadt der Morgenröte), gelegen in Südindien, in der Nähe des kleinen, französisch geprägten Ortes Pondicherry, 100 km von Madras und 5 km vom bengalischen Ozean entfernt, ein einmaliges Projekt auf dieser Welt. Ich will versuchen, den Sinn dieses Ortes zu erklären, in dem ich die beeindruckendste Sylvesterfeier meines Lebens erlebt habe.








 

 Wie hat es angefangen?

Der Impuls zu dieser Stadt kam in den 60er Jahren von einer Frau, der Französin Mirra Alfassa, genannt „Die Mutter“. An der Seite des indischen Evolutionsphilosophen und Yogi Sri- Aurobindo leitete sie den Sri Aurobindo Ashram in Pondicherry, doch sie wollte mehr als diese Schülergemeinschaft. Sie wollte eine universelle Stadt bauen, in der Männer und Frauen aller Länder in Frieden und zunehmender Harmonie leben können, jenseits aller Glaubensbekenntnisse, politischer Richtungen und Nationalitäten. Auroville‘s Aufgabe sollte darin bestehen, menschliche Einheit zu verwirklichen. Am 28.02.1968. versammelten sich 15.000 Menschen aus 124 Ländern auf dem Auroville-Plateau. Sie alle deponierten Erde aus ihrer Heimat in dem neu errichteten Amphitheater in einem Gefäß, welches die globale Verbundenheit symbolisieren soll.

Wie sieht Auroville heute (im Jahre 2000) aus?




 

Aus der vertrockneten Einöde wurde ein üppiges Biotop und die 2 Millionen gepflanzten Bäume wurden zum Symbol für organisches Wachstum. Heute leben und arbeiten hier ca. 1400 Menschen aus rund 28 Ländern. Es gibt imposante Lehmbauten und solide Häuser, in denen einheimische Techniken, ökologischer Pragmatismus und blühende Phantasie eine gelungene Verbindung eingegangen sind. So manch Architekt lebt hier seine Phantasien aus, meistens mit dem Gedanken des gemeinsamen Geistes von Auroville. Viele Häuser sind vorbildlich mit Solartechnik, Biogasanlage und Brauchwassernutzungssystem ausgestattet. Mehrere Biofarmen und die privaten Gemüsegärten ackern auf das Ziel der Selbstversorgung zu. Etwa die Hälfte des Bedarfs an Obst, Gemüse und Getreide kommt inzwischen aus dem Eigenanbau.




Für die Gesundheit sorgt ein Zentrum, das ständig wächst und kostenlos allen zur Verfügung steht. Von klassischer Schulmedizin über Homöopathie bis zu Reiki, Massage und der traditionellen indischen Aryuveda-Medizin ist alles vertreten.

Um die Bildung kümmern sich Kindergärten und 3 Schulen. Die höheren Schulabschlüsse werden in Pondicherry im französischen Gymnasium absolviert, studiert wird oft im Ausland.

Wirtschaftliche Situation von Auroville:
Die Stadt ist von zusätzlichen Spenden abhängig und bekommt sie vor allem für die ökologischen Projekte und die Entwicklungshilfe. Öffentliche Geldgeber von Auroville sind u. a. UNESCO, EG, nationale und internationale Stiftungen, französische und andere Ministerien, Unternehmen, Institutionen und Verbände.
Die indische Regierung finanziert einen großen Teil der Wiederaufforstungskosten. Doch die Auroville-interne Landwirtschaft trägt sich selbst. Rundgerechnet kann etwa ein Drittel der Aurovillianer ganz von hiesiger Arbeit leben, ein weiteres Drittel lebt teils von Auroville, teils von Erspartem oder Dazuverdientem und das letzte Drittel braucht überhaupt kein Geld von Auroville und lebt aus Zinserträgen, Erbschaften, Renten u. ä. In den Betrieben herrscht weitgehende Finanzautononomie und nicht nur das Einkommen wird untereinander ausgehandelt, sondern auch, was an Auroville abgegeben wird. Angestrebt ist zwar, 30 % des Gewinns abzugeben, doch die Abgaben bleiben freiwillig. Aurovillianer zahlen einen geringen Beitrag monatlich in einen zentralen Fond, in den auch die Abgaben von Gästen , die Beiträge der Newcomer, die Abgaben der Produktionsstätten sowie zweckungebundene Spenden fließen. Aus diesem zentralen Fond werden außer der Infrastruktur und den Serviceleistungen wie Strom und Wasser auch die Unterhaltszahlungen bestritten. Zusätzlich gibt es eine Art Kindergeld und für individuelle Notfälle bleibt ein Sondertopf.

Kommunikationsmittel sind interne monatl. Zeitschriften, Telefone sowie - forciert durch die eigene Elektronikfirma Aurelec - viele Computer einschl. Internet sowie Fax-Geräte. Wichtigstes Medium aber sind die zahllosen Meetings und Arbeitsgruppentreffen.

Arbeitsplätze bietet Auroville sowohl im Rahmen der Entwicklungshilfe als auch in der ökologischen Forschung oder in der Bildungsarbeit. Außerdem gibt es mittlerweile 60 Betriebe, vom Ein-Frau-Betrieb bis zum mittelständischen Unternehmen mit Hunderten von Mitarbeitern. Produziert wird Kunsthandwerk und Kleidung sowie Nützliches für Auroville und Indien: Bautechnik, Windmühlen, Ziegelpressen, Elektronik, Elektroteile, aber auch Räucherstäbchen, Lampenschirme, Holzspiele und Hängesitze.

Geliebt und gelebt wird hauptsächlich in Zweierbeziehungen und das Modell der Kleinfamilie hat hier keineswegs ausgedient. Das Familienleben erweitert sich durch den Faktor Gemeinschaft, in der die Kinder überall ein- und ausgehen.

Den Mittelpunkt von Auroville bildet die Zone der Ruhe, des Friedens und der Meditation und da, wo sich sonst Rathaus und Kirche befinden, steht das Matrimandir - die Meditationskugel.


Sie ist die Seele des Ganzen. Das Innere dieses Bauwerkes besteht aus einem beeindruckenden Hauptraum mit einer leuchtenden Kugel im Zentrum – ein Platz der Konzentration und Stille, in dem ich zu meinem eigenen Erstaunen seit langer Zeit mal wieder richtig zu mir selber gefunden habe. Da , wo Leute sonst durch Einkaufszentren hetzen, kann man hier durch die Gärten wandeln , im Amphitheater verweilen oder Ruhe und Konzentration üben. Um dieses Zentrum drehen sich die vier Zonen spiralförmig nach außen, die Wohnzone, die Arbeitszone, die Kulturzone und die internationale Zone.



Ich möchte unbedingt betonen, dass Auroville keineswegs eine Art New-Age-Zentrum ist. Angeboten werden allenfalls Yoga-Kurse, energetische Heilmethoden wie Reiki und Tanzgruppen. Die Stadt will kein therapeutisches Reiseziel werden. Oft bieten Gäste ein besonderes Seminar an und sind froh, aktiv etwas beitragen zu können. Das ist eine gute Form, Auroville für sich zu erobern. Allgemein gilt: In Auroville geht jeder seinen Weg individuell und trägt sein Päckchen allein.

Gast sein

Charakteristisch für den Gast in Auroville ist, hin- und hergeworfen zu sein zwischen Verzweiflung und Begeisterung. Verzweiflung über all das, was nicht klappt, über lähmende Hitze oder zermürbenden Dauerregen, Begeisterung, weil man gerade eine spontane Einladung von einem überaus netten Aurovillianer bekommen hat, weil alles so weit, großzügig und herrlich urspünglich ist, ohne Ampeln, Schilder und Regeln, Begeisterung über die wunderbare Natur mit all den



Streifenhörnchen, Vögeln, Pferden und Ochsen, über lange Abende unter klarem Sternenhimmel. Begeisterung über den Strand und das Meer, das sich – wie Auroville – täglich von einer anderen Seite zeigt. Ich wohne in einem eigenen kleinen Guesthouse mitten zwischen Wald-, Wild- und Obstbäumen, umrundet von Wasser und während des gemeinsamen Frühstücks und Abendessens an einem langen Tisch unter Bananenbäumen neben dem Swimmingpool wird ausgelassen gelacht und gescherzt – man macht sich auch oft über Auroville lustig, denn glücklicherweise wird auch hier nicht alles so bierernst gesehen. Wenn man sich wie ich mit dem Moped auf den roten Sandstraßen fortbewegt, ständig von irgend jemanden, den man gerade kennengelernt hat, gegrüßt wird, sich mittags in der Solar-kitchen trifft, nicht urlaubstypische, sondern tiefe Gespräche führt, nette Menschen aus aller Welt trifft, dann bekommt man schon das Gefühl der Wärme und des Familienlebens, das sich hier so anders gestaltet. Diese Lebensform ist ohne heimatlichen Berufsstress, ohne den üblichen Konkurrenzkampf und das Gefühl des Geborgenseins macht sich immer mehr breit. Ich stelle fest, dass es noch etwas Anderes gibt als Weltreisen und das Abhaken von Sehenswürdigkeiten. Meine anfänglichen Bedenken, nämlich dass dies ein Ashram bzw. eine Sekte sein könnte, wurden zerstreut. Mir wurde klar, dass dies wirklich ein Ort jenseits aller Glaubensbekenntnisse ist und für mich „Die Mutter“ sowie Sri Aurobindo lediglich eine Art Schutzheilige dieses Ortes sind.

Die Milleniums-Feier habe ich in besonders liebevoller und warmer Erinnerung. Nach einem recht unterhaltsamen und lustigen Essen mit Freunden wurde dann die ganze Nacht unter sternenklarem Himmel gefetet und getanzt. Gegen 5.00 Uhr wurden wir im Amphitheater mit einer Blume begrüßt, um uns herum ein Meer von Kerzen und riesige, liebevoll arrangierte Blütengebilde auf dem Boden.




Es wurde ein Lagerfeuer entfacht, viele Einwohner von Auroville, Gäste sowie ca. 600 indische Besucher aus der Umgebung waren mucksmäuschenstill, sehr schöne ruhige Musik untermalte die feierliche Stimmung und jeder gab sich seinen eigenen Gedanken zum Jahrtausendwechsel hin. So langsam kroch dann gegen 6.00 Uhr der Morgen hervor und es wurde hell. Die Sonne des nächsten Jahrtausends erschien langsam am Horizont. Ein einmaliges Erlebnis, das ich nie vergessen werde!

Pondycherry am indischen Ozean,  20 Minuten von Auroville, 3 Stunden von Chennai (früher Madras) entfernt:



Was es ist              

Es ist die Stille mitten im Trubel des Ganzen
es ist das Gefühl des Friedens
es ist der gemeinsame Geist
es ist die Suche nach Sinn
es ist Geborgenheit und Gelassenheit
es ist ein Ort der den Sinnen schmeichelt
es ist ein Ort des gedanklichen Austauschs
es ist ein Ort der uns der Erkenntnis ein Stück näherbringt
es ist ein Ort der Meditation und Versenkung
es ist ein Ort der Hoffnung gibt

A u r o v i l l e    -    eine Vision wird wahr

(Gedicht von Annette Weirich aus dem Jahre 2000)


Aktueller Bericht von Jörg Heuer und David Klammer aus dem Jahre 2018 über Auroville siehe hier:





 

Wer noch mehr wissen möchte, bitte unten lesen:

Alltag im Paradies

(Bericht aus - brand eins – Wirtschaftsmagazin, 2001 brand eins Verlag)
Autor Christian Litz

Auroville wurde 1968 von dem Philosophen Sri Aurobindo gegründet. Es sollte ein Ort ohne Eigentum sein, aber voller spiritueller Energie. Heute gibt es in der Gemeinschaft in Indien Geld und Ungleichheit. Doch die Utopie existiert immer noch. Sie hat überlebt, weil es Menschen gibt, die sie leben.

----- Der Zyklon schlägt hart zu, der schlimmste, der Indien in den letzten 50 Jahren traf. Bäume knicken, Häuser brechen, Dächer fliegen, Motorräder wirbeln, Wasser kommt von oben, von der Seite, von unten. Ein Mungo, eine Marderart, sonst immer nur am Boden, fliegt in etwa einem Meter Höhe über die Straße und dreht sich dabei um sich selbst. Ein unglaublicher Anblick. Aber: Ein fliegender Mungo ist nichts gegen Fred im Zyklon. Sitzt in der großen Küche der Gemeinschaft Aspiration und schält Kartoffeln. Fred ist Würde. 60 Jahre, Senatoren-Ausstrahlung, sein Haare sind grau und dick, die Falten um seinen Mund perfekt, seine Haltung kerzengerade. Fred kann selbst beim Kartoffelnschälen den Edelmann geben. Er erzählt von früher. Die Küche ist auf einer Seite offen, nur ein paar Pfosten, keine Wand. Bäume krachen, die Geräusche sind laut und schrecklich, das schöne Mädchen links von ihm, in Auroville geboren, schneidet Tomaten und kreischt ängstlich. In Aspiration wird mehrmals die Woche gemeinsam gegessen. Viele der Communities machen das, obwohl es die Großküche gibt, die alle versorgen kann. Das Essen in den Communities ist eine soziale Veranstaltung. In Aspiration haben alle irgendwann Küchendienst. Heute Fred und das Mädchen. Der Tisch in der Mitte des Raumes ist nass. Strom gibt es schon lange nicht mehr. Werden morgen noch alle leben? Fred war dabei, als Auroville gegründet wurde, 1968. Er kannte Mutter noch persönlich.

Wie es begann und was es wurde: vom Traum eines Yogi zu einer internationalen Gemeinschaft, in der alles allen gehört.

Mutter? Ja, Mutter. Ein Rückblick: Sri Aurobindo, in England aufgewachsener Inder, kommt 1893 zurück nach Indien, wandelt sich vom Revolutionär zum friedlichen Philosophen und Yogi. Er sagt: Alles Leben ist Yoga. Und: Der Mensch ist nur eine Zwischenstufe der Evolution. Sri lernt Mutter kennen, eine Französin, die früher in Japan gelebt hatte. Die beiden ergänzen sich, so, wie sich in Indien Mann und Frau oft ergänzen. Er ist für die abgehobeneren Belange des Lebens, also Philosophie, Politik und Ähnliches zuständig, sie für das Praktische, Organisation, Finanzen. Er schwebt, sie regelt den Alltag. In Pondicherry, südlich von Madras am Golf von Bengalen, entsteht ein Ashram, ein religiöses Zentrum. Und die Leute kommen. Sris Regeln sind massentauglich, denn er ist nicht zu fordernd. Askese muss nicht sein. Man macht auch Yoga, wenn man auf dem Markt ein Huhn kauft oder verkauft. Er ist als Guru ein angenehmer Typ. Gut, das ist jetzt alles arg vereinfacht, er hat einige Bücher geschrieben, viel erklärt. Nur ein Zitat: „Der Mensch ist ein Übergangswesen; er ist nicht endgültig. Denn im Menschen und hoch über ihm steigen strahlende Stufen zu einer göttlichen Übermenschlichkeit empor.“ Und so weiter. In Auroville ist Sri, was für gläubige Katholiken der Papst ist.

   Sri stirbt Anfang der fünfziger Jahre, Mutter übernimmt. Sie ist in Auroville fast so heilig wie Sri. Sie sagte: „Auroville gehört niemandem im Besonderen. Auroville gehört der ganzen Menschheit.“ Und: „Es ist der ideale Ort für jene, die wissen wollen, welche Freude und Befreiung das Aufgeben von persönlichem Besitz mit sich bringt. Alles gehört der Gemeinschaft. Niemand ist berechtigt, über etwas als privates Eigentum zu verfügen.“ Und: „Geld wird innerhalb Aurovilles nicht benutzt werden. Auroville wird nur mit der Außenwelt Geldbeziehungen eingehen. Aurovillianer erhalten keine Gehälter.“ Da irrte Mutter, es gibt Geld in Auroville, Konten, so genannte Maintenances, statt Gehälter. Es gibt ein paar Gruppen, die versuchen, ohne Geld auszukommen, es gibt welche, die untereinander kein Geld tauschen, es gibt welche, die Geld wie Heu machen und es an die Gemeinschaft geben, es gibt auch reiche Aurovillianer. Die Ökonomie Aurovilles ist schwer zu verstehen, viele verschiedene Systeme existieren parallel nebeneinander, kaum jemand blickt durch. Worte, die immer wieder fallen, wenn die Leute versuchen, ihre Wirtschaft zu beschreiben, sind Flickenteppich und Mosaik.

   Bigi, etwa 60, aber jugendlich, aus Deutschland, arbeitete lange an der Cote d’Azur als Immobilienmaklerin, ist in Auroville für den Landkauf zuständig. Sie sammelt Spenden, in Europa, Indien, den USA. Die Landpreise steigen hier für indische Verhältnisse ins Unermessliche, Spekulanten machen eine schnelle Rupie. Sie erklärt stundenlang die wirtschaftlichen Verhältnisse und endet so: „Okay, das ist schwer nachvollziehbar, aber irgendwie funktioniert es. Auroville ist ein Erfolg.“ 1500 Menschen leben in Auroville, Mutter wollte 50000. Nur wenn man die Einheimischen in den umliegenden Dörfern, die stark von Auroville profitieren, dazurechnet, kommt man nahe an die 50000. 1200 Hektar Land gehören zur Gemeinschaft, gar nicht mal so viel. Auroville ist eine Ansammlung schöner Dörfer inmitten des in wenigen Jahren gepflanzten Dschungels. Alles ist grün, dicht, ab und zu Wiesen und Felder, Pfauen tapsen herum, alles wirkt friedlich, angenehm ruhig, eine schöne Umgebung. Viele tolle Gebäude, geplant und gebaut von Leuten, die ihrer Phantasie freien Lauf ließen, die keine Bauvorschriften zu achten hatten. Die meisten wohnen in Einfamilienhäusern, oft mit Solartechnik und Brunnen. Einige Villen wirken futuristisch, extravagant. Es gibt ein paar Apartmenthäuser, dazu Unterkünfte für junge Leute. Die Häuser gehören niemandem: Einer baut eins, lebt darin, überlässt es einem anderen, er bekommt nichts dafür, alles gehört der Gemeinschaft, ständig wird umgezogen. Dann gibt es noch viele Gästehäuser: Dezember, Januar, Februar ist Touristensaison, Auroville verdient in der Zeit einen wichtigen Teil seines benötigten Geldes, es wird Kurtaxe verlangt.

   1200 Hektar Land mit etwa 80 Communities, die so schöne Namen haben wie: Adventure, Acceptance, Arc en Ciel, Certitude, Eternity, Fraternity, Hope, Grace, Quiet, Reve, Simplicity und Verité. Discipline nicht vergessen, in Discipline leben lustigerweise vor allem Deutsche, Siegfrieds und Karins. Nachnamen hat niemand.

   Aus 50 Nationen kamen sie hierher. Laut Statistik sind 32 Prozent der Bevölkerung Inder, 18 Prozent Franzosen, 15 Prozent Deutsche, fünf Prozent Italiener, je vier Prozent Holländer und Amerikaner, drei Prozent Schweizer, dann folgt eine lange Liste mit allen möglichen Ländern. Jährlich kommen etwa 60 bis 80 neue Bewohner dazu. Die Zuzugsrate wird kontrolliert klein gehalten, die Geburtenrate ist sehr hoch. Intern, wenn über Faulpelze geschimpft wird, wird Auroville oft mit Kolonial-Allüren verbunden. Viele tamilische Frauen und Männer arbeiten für die Westler, natürlich bezahlt, putzen ihre Häuser, arbeiten auf den Feldern. Die Arbeit und die Bezahlung seien für die Tamilen attraktiv, die Frauen bekämen durch sie Freiheit von ihren Familien. Viele tamilische Kinder und Jugendliche gehen in Auroville-Schulen, die Frauen in den Dörfern bekommen Kredite vom Outreach Project Auroville, die medizinische Versorgung der Umgebung hat Auroville übernommen. Tamilische Familien wollen Aurovillianer werden. Man kann doppelt so viel Mitgift verlangen, wenn der Sohn eine Tamilin heiratet.

Wie es gedacht ist und wie es gemacht wird: der sanfte Selbstversorger Johnny und der harte Otto, zuständig für Finanzen.

Mutter starb 1973, in Auroville sagen sie: Sie verließ ihren Körper. Johnny ist 58, er kam Ende der sechziger Jahre aus Australien hierher und liebte die Idee,pflanzte Bäume, baute Häuser. Er erzählt von früher. „Wir hatten damals das beste Material, Pumpen, Werkzeug, wenn du was gebraucht hast, gabst du dem Anwalt einen Zettel, der ging zu Mutter, die zog ein paar Scheine unter dem Kissen hervor, auf dem sie saß, und du hast damit den Generator gekauft.“ Johnny sagt: „Geld war damals nicht knapp in Auroville.“ Viele reiche Leute brachten viel mit. Spenden kamen in Mengen. Die indische Regierung gab und internationale Organisationen, zum Beispiel die WHO, die UNESCO, die EWG. Zurzeit sind vor allem Inder, die im Silicon Valley reich wurden, die großen Spender. In Auroville konnte gebaut und gepflanzt werden. Viel Geld ging in ökologische Projekte. Früher war hier Wüste, jetzt ist Dschungel. „Inzwischen ist die Geldlage eng.“ Johnny braucht kein Geld: Alles, was sie in seiner Community, Fertile, essen, bauen sie selbst an, er trägt nur Klamotten, die in Auroville gemacht wurden. Kein Strom in Fertile, die Pumpen werden von Sonnenstrahlen angetrieben. „Unser Hauptziel ist Selbstversorgung.“ Für ihn ist Fertile ein Paradies.

   Der graubärtige Mann ist stolz auf einiges hier. „In Auroville machst du, was du machen willst. Wenn du hinter einem Schreibtisch sitzt und Papiere unterschreibst, dann machst du das, weil es dir gefällt, du musst es nicht wegen des Geldes machen.“ Weiter mit Begeisterung: „Wir sind hier Farmer, wir bauen an, was wir brauchen, so was gibt es doch heute kaum noch auf der Welt, es ist der reine Luxus.“ Allerdings normalisiert sich Auroville: Vor kurzem wurde ein Moped von einem Jugendlichen gestohlen, es gibt Drogen, ein Junge aus Auroville starb in Madras an einer Überdosis. Der indische Staat lässt Auroville machen: Kein indischer Polizist ist für die Gemeinschaft zuständig, die soll alles allein regeln.

   Johnny ist entspannt. Er meditiere zwar, mache auch Yoga, „aber hey, das ist kein Yogaregime hier, Leben in Auroville ist frei.“ Er ackert auf den Feldern, macht Jugendarbeit. Abends liest er, auf dem Holztisch unterm Palmdach liegt ein altes Satiremagazin, daneben ein Buch über Paul Klee und eines mit dem Titel „Natural Capitalism, Creating the Next Industrial Revolution“. Viele Bibliotheken gibt es in Auroville, Bücher, CDs, viele Konzerte, viele Tanzvorführungen, Kultur ist kostenlos und im Überfluss, Vorführungen von Filmen indischer Regisseure, ein Truffaut hier, ein Faßbinder da. Plakate kündigen an: Schubert, Brahms, Messian. Und so weiter. Aufführungen von Auroville-Bewohnern.

   Unter dem mit Palmblättern gedeckten Dach des offenen Gemeinschaftspavillons von Fertile: Johnny, der einen Lungi, einen Wickelrock trägt, schüttet Tee nach und sagt, was alle in Auroville sagen: „Haha, du willst mit Paul sprechen. Vergiss es, er wird keine Zeit für dich haben.“ Paul und Laura leiten Maroma, das ist die Firma – in Auroville heißt das Unit – die Räucherstäbchen produziert und seit Jahren der Gemeinschaft so viel Geld zukommen lässt, dass die damit zwei Drittel ihres Etats finanziert. Ohne Maroma gäbe es Auroville nicht mehr. Ohne Paul und Laura gäbe es Maroma nicht. Maroma liefert Geld, Geld wird gebraucht, abernicht gemocht, hat ein richtig schlechtes Image.

   Noch mal zurück zu Fred in der Aspiration-Küche während des Zyklons. Zwei indische Aurovillianer kommen in die offene Küche gerannt, schreien, dass Bäume umgefallen sind, einer auf Freds Haus. Fred nickt würdig, dann versucht er, Auroville zu erklären. Ein unmögliches Unterfangen, immerhin sagt er: „Wir versuchen, ein Leben zu leben, das nicht normalen Motiven folgt.“ Draußen tobt der Zyklon. Die Frage hier sei immer: Was kannst du beitragen? Später erzählt er von sich: Jemand aus seiner Familie hatte die Zeitschrift »Quick« gegründet. Fred machte 1959 in München Abitur, fuhr mit dem Frachter nach Indien, war hier und dort und landete im Ashram von Pondicherry, Mutter beeindruckte ihn: „Ich sah in ihre Augen und ging auf eine Reise. Ich wollte Mitglied im Ashram werden, ich saß im Garten und meditierte. Eines Tages öffnete ich die Augen, und da stand diese gut aussehende Schwedin vor mir. Ich wurde Stiefvater ihrer drei Kinder und hatte zwei eigene mit ihr.“ Wie alle Beziehungen in Auroville, fast ohne Ausnahme, geht auch diese in die Brüche. Das habe damit zu tun, dass die Frauen hier selbstbewusster seien und die Gemeinschaft sich um alle kümmere. Deshalb verließen alle Frauen ihre Männer, erklärt später jemand.

   Otto kam später als Fred nach Auroville. Otto ist Hardcore, so wie Johnny, nur, dass der entspannt wirkt. Otto dagegen hat, bei all seiner spürbaren Sensibilität, seiner leisen Nuschelstimme, eine Stalin-Aura. Er ist ein Überzeugungstäter, will die Menschen bessern, was viel Härte erfordert, von allen, denen, die gebessert werden sollen, aber auch von ihm. Er sitzt im ausgewaschenen blauen Hemd, mit schwarzem Schnauzer und einem traurig-müden Blick der Verzweiflung in „Roma’s Kitchen“, einem Restaurant. Die völlig unzeitgemäße Drahtbrille schief im Gesicht, redet er über Geld. Er ist dafür genau der Richtige. Der Österreicher verwaltet die klammen Finanzen der Kommune.

   Otto hat eine lange Geschichte hinter sich: Arbeitete bei einer Bank in Wien, stieg aus, machte zehn Jahre die Disco „Mississippi“, stieg wieder aus. Auf nach Auroville. Zehn Jahre blieb er in der Bäckerei. Die ist für viele Neuankömmlinge der erste Anziehungspunkt. Alle Leute, die hierher kommen, haben ein großes Bedürfnis, erst mal Bäume zu pflanzen und Brot zu backen. Mehr als zwei Millionen Bäume haben die Aurovillianer bisher gepflanzt, sie haben die Erosion gestoppt, einen Landstrich gerettet. Und ihr Brot ist gut. Eine Italienerin, die es verkauft, lächelt und sagt ernsthaft: „The backery is under german leadership.“ Ab und zu lacht man in Auroville über den Begriff „Oberbrotführer“.

Wie das Grundeinkommen in die Gemeinschaft kam, wofür es nicht reicht und was man dann dringend braucht: Geld.

Nach zehn Jahren Bäckerei managte Otto „Pour Tous“, den Supermarkt in Auroville. Pour Tous, französisch: für alle. Anfangs war der Supermarkt kostenlos. Die Leute holten sich, was sie brauchten, die Gemeinschaft finanzierte es. So funktioniert noch heute der Kleiderladen, der Kinderladen und einige andere Versorgungseinrichtungen. Pour Tous aber funktionierte so nicht. Otto, der Sanierer, zog ein, als nichts mehr, wirklich nichts mehr am Lager war, Geld sowieso nicht. Seine Reform: Jeder Aurovillianer bekam ein Konto. Darauf kam das Geld, das die Gemeinschaft jedem Einzelnen für geleistete Dienste gibt, die so genannte Maintenance. Da auch künstlerische Tätigkeiten oder spirituelle Leistungen mit Maintenance honoriert werden, schließlich ist alles und jeder wichtig für die Gemeinschaft, ist Maintenance eigentlich ein Grundbetrag zum Lebensunterhalt, der jedem zur Verfügung gestellt wird, egal, was er tut. Es ist ein bescheidener Unterhalt, aber er reicht zum Leben. Es gibt einige entspannte Nichtstuer in Auroville. Otto schimpft auf sie: „Ich habe mit vielen Leuten zusammengearbeitet, die an dem Tag, an dem sie Aurovillianer wurden, nicht mehr zur Arbeit kamen.“

   Die Wartezeit bis zur Aufnahme wurde deshalb von einem Jahr auf zwei erhöht, sagt Otto. Viele würden hier schnell zum Künstler. Kunst ist wichtig, klar, aber er mag das nicht so, er ist schließlich für die Finanzen zuständig. Die Idee sei: „Auroville versorgt die Leute, die geben dafür ihre Energie.“ Sein System bei Pour Tous funktionierte, Spenden wurden reingepumpt, die Leute konnten und können immer noch für einen bestimmten Betrag einkaufen. Spenden gibt es viele. Einige leben hier bescheiden, geben ihr Geld an die Gemeinschaft. Einige leihen es, es wird auf ein Konto gelegt, die Zinsen gehen an Auroville, das Geld gehört weiterhin dem Geber. Manche verdienen in Auroville viel Geld und geben viel ab. Wieder fallen zwei Namen: Paul und Laura, die Leiter der Räucherstäbchenproduktion. Otto sagt: Paul wird keine Zeit haben für ein Gespräch, der arbeitet 20 Stunden am Tag.

   Pour Tous funktionierte, alles lief. Otto stieg wieder aus, managte den Foreign Exchange, eine Art Bank, sie war in der Krise. Krise ist oft in Auroville, es ist faszinierend, wie krisentauglich die Aurovillianer sind, keine Krise macht sie richtig nervös. Otto bewährte sich auch dort, und als mal wieder große Krise war, wurde Otto überredet: Er war plötzlich für die Gesamtfinanzen zuständig. Das Erste, was er machte: Der Account aus dem Lebensmittelladen wurde Account für alles. Ob Bäckerei, Café, Internet oder Mittagessen in den Gemeinschaftsküchen, alles geht über den Account. Bargeld ist theoretisch nicht mehr nötig in Auroville. Das funktioniert aber nur begrenzt, schließlich wollen die meisten Moped fahren, ab und zu nach Pondicherry oder gut in Roma’s Kitchen speisen. Es gibt Möglichkeiten, in Auroville Geld auszugeben. Nur Kultur ist immer kostenlos und Spirit, also Yogakurse, die Selbstfindungssachen, die psychologische Betreuung, die Schulen für die Kinder, Kleider für sie, das kostet nichts. Aber Luxus schon. Auch ein bisschen Luxus. Es gibt Gründe, Bargeld zu haben. Otto managt nun die Finanzen, er arbeitet mehr als die fünf Stunden täglich, die die Gemeinschaft von jedem erwartet. Jetzt sitzt er in Roma’s Kitchen am Rande der Siedlung, auf der Terrasse. Mittagszeit, damit Otto keine Arbeitszeit verliert, das war eine Bedingung. Die andere: Du musst zahlen. Okay.

   Otto erklärt warum: Er ist ein Asket, lebt allein von der Maintenance. Deshalb auch die antike Drahtbrille. „Man muss bescheiden sein, ich habe ein Fahrrad, kein Motorrad, ein Motorrad ist teuer.“ Seine Frau, deren zwei Kinder und er leben von 13000 Rupien im Monat, etwa 500 Mark. Viele Aurovillianer gehen im Sommer für zwei, drei Monate nach Europa, jobben. „Ich finde das abartig, die kommen zurück, kaufen sich ein Motorrad oder so was, müssen sich noch zwei Monate erholen, fehlen hier im ökonomischen Prozess. Und sie haben einen zu hohen Lebensstandard für das, was wir hier produzieren.“

Was nicht funktioniert hat: von der gescheiterten Computer-Industrie und den Menschen, die gern Geschäfte machen wollten.

Es folgt Theo, einer der Computer-Jungs. Lange brachten die Computer-Units Geld nach Auroville, viel Geld. Es gab aber ein Image-Problem. Theo, deutsch, Computerfreak, seit 1986 in Auroville, erklärt die Organisation: „Mehrere Units sind zusammengefasst zu einem Trust, ich bin, Moment, wie heißt das“, er schaut nach, „ja, hier, Managing Trustee, das heißt, ich bin verantwortlich für alle Vermögenswerte, bewegliche und unbewegliche. Meine Unit ist Penta.“ Er klagt: „Business war in Auroville immer ein Schimpfwort. Bei unserem Unternehmen Aurelec aber hieß es: Business ist nötig, wir haben uns stark gemacht für Business. Paul bei Maroma war cleverer. Der hat einfach Geld gemacht, gegeben und den Mund gehalten. Wir haben das Maul aufgerissen und gesagt, Geld verdienen ist in
Ordnung. Meine Güte, wir waren unbeliebt.“ Aber erfolgreich.

   Angefangen haben sie mit Scannern für die Lederherstellung in indischen Betrieben. Das Ding tastete das Leder ab und sagte, wie groß es ist, wie viele Schuhe daraus zu machen wären. Danach bauten sie Computer. Kauften Teile in Taiwan, setzten in Auroville alles zusammen, als in Bangalore noch kein Computer stand. „1988 wurden wir IBM-kompatibel.“ Damals waren die indischen Einfuhrzölle mörderisch. Es war lukrativ, in Indien Computer zusammenzubauen. „Wir haben die Gehäuse aus Fiberglas in Auroville gemacht, die Einzelteile teilweise selbst gebaut, den Rest geholt. Wir hatten ein Korrosionsproblem, also haben wir eine Pulverbeschichtung entwickelt.“ Danach haben sie sich auf Netzwerke konzentriert, mit Novell kooperiert, waren da indischer Marktführer. „Wir hatten eine imposante Kundenliste.“ Die indische Bahn zum Beispiel benutzte Hardware aus Auroville.

Was prima funktioniert: von der Firma Maroma, die zwei Drittel der Finanzen reinholt, und ihrem Chef Paul, der den Luxus liebt.

Der Niedergang begann mit der Foundation, sie wurde 1992 gegründet. Ganz oben ist die Foundation, eine Art e.V., geleitet von Otto. Darunter die Trusts, unterteilt in Units. „Wir haben gesagt, um Geschäfte zu machen, ist die Foundation Scheiße.“ Weil sie gemeinnützig ist, keine Aktien haben darf, weil ihr der Boden gehört, bekommen die Units und die Trusts keine Kredite von Banken, sie haben keine Sicherheiten, ihnen gehört nichts. „Venture Capital kannst du vergessen, die spucken nicht mal auf dich. Die Restriktionen kamen alle von Auroville, nicht vom indischen Staat, wir haben uns selber gelähmt.“ Nach und nach machten sich die Computerleute selbstständig, Aurelec spaltete sich in Privatfirmen, die gingen nach Pondi und Madras. Theo: „Paul hat ein heiliges Produkt gemacht, Räucherstäbchen, das war in Ordnung, aber Computerbusiness wurde hier gehasst.“

   Es gibt zurzeit etwa 100 Units, nur wenige machen Gewinn. Sie produzieren Stoffe, Kleidung, Schuhe, übersetzen via Internet in viele Sprachen der Welt, betreiben Läden, reparieren Fahrräder, stellen Sonnenkollektoren und Biogas-Tanks her, restaurieren Möbel, betreiben ein Reisebüro. 100 Units, wenige Geldbringer. Die große Ausnahme: Maroma. Maroma sieht aus wie eine Festung, hohe Mauern drumherum, Wächter in Uniformen am Tor, alles völlig untypisch für das Leben hier. Beim Chef, Paul, muss man einen Termin beantragen. Aber er nimmt sich zwei Stunden Zeit. Es werden zwei Tage, weil Paul sehr kommunikativ ist. Paul ist 50 Jahre alt, kam mit 24 hier an und fühlt sich seitdem wie 24. Er hat graue kurze Haare, trägt ein weißes Seidenhemd, gekauft in Kyoto, steht auf Luxus, sagt er später. Laura, seine Partnerin, und er haben einen Swimmingpool in ihrem Garten. Sein Lächeln ist dezent, wissend, ehrlich. Paul liebt Auroville und mag Mauern, sie machen frei. „Mauern schaffen Grenzen, dein Hirn kann sie dann überfliegen.“ Maroma ist die Auroville-Erfolgsgeschichte. „Man kann das Wachstum nicht auf Papier erklären, Mathematik arbeitet hier nicht. Je mehr wir ausgeben, desto mehr kriegen wir zurück. Wir investieren gern, wir mögen Schönheit, und dafür muss man nun mal bezahlen.“ Wie die meisten Aurovillianer sieht Paul jünger aus als er ist.

   Paul ist Algerier, kam nach Frankreich, arbeitete als Apotheker, kam nach Auroville. Maroma, zusammengesetzt aus Mutter und Aroma, begann 1976 als erste Unit. Er war, nach einer Zeit in der Bäckerei und in der Bibliothek, kurz dabei, wurde dann aber erst mal Landwirt. Auroville erklärt er so: „Es ist ein Menschheitsexperiment. Geld ist hier nicht Gesetz, nichts gehört einem. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, bist du falsch in Auroville. Hier brauchst du einen anderen Motor.“ Nein, Geld sei nicht sein Motor, ja, er arbeite viel. „Es gibt hier fleißige Leute und Leute, die ihren Vorteil suchen.“ Einfach hinschmeißen ginge aber nicht, trotz der Vorteilssucher, weil darunter auch die wahren Aurovillianer zu leiden hätten. „Wir müssen eine andere Art Leben entdecken. Die Erde braucht
das, sie ist in keinem guten Zustand, es muss sich etwas ändern.“
   Was Paul braucht, sei Shopping, in Bombay, Tokio, New York oder Paris. Maroma, drei Millionen Dollar Umsatz im Jahr, macht viele Geschäftsreisen nötig. In aller Welt werden die Räucherstäbchen verkauft, sie seien besser als die meisten der Konkurrenten. „Qualität ist wichtig, weil es ein Produkt ist, das auch Mutter würdigen soll.“ Deshalb bekommen die Arbeiterinnen viel mehr als den indischen Durchschnittslohn. Es gibt Sozialleistungen, die der DGB gern für seine Mitglieder hätte. Als Gegenleistung wird erwartet, dass bei den acht Stunden Arbeit kein Wort fällt. Hier arbeiten keine Aurovillianer, nur Tamilen. „Ein paar haben es versucht, aber das klappte nicht.“ Zu verwöhnt? Er nickt.

   Die Arbeit sei hart: „Du bist hier in einem Land, in dem du jeden Tag deine Firma neu aufbauen musst.“ Noch immer könne man nicht ruhigen Gewissens delegieren. Kontrolle sei wichtig. Und man müsse die Leute jeden Tag neu motivieren. „Klingt wie im Managerbuch gelesen, ich weiß, aber in Indien gilt das.“ Er sieht sich nicht als Märtyrer, obwohl er sagt: „Was ich für Auroville leiste, wird nicht geschätzt, aber das ist mir egal. Laura, Mutter, Sri, das reicht mir. Ich habe oft Ärger, weil ich sage, was ich denke.“ Als er durch die Firma führt, sagt er: „Arbeit zeigt dir den hässlichen Teil deines Selbsts.“ Er hat bei seiner Arbeit viel mit Geld zu tun. „Ich bin kein Geschäftsmann, aber ich fasse Geld an, meine Wahrnehmung von Geld ändert sich. Du musst darüber die ganze Zeit nachdenken. Das ist wichtig.“

   Paul macht den Eindruck, als würde er viel nachdenken: über sich, über die Welt und vor allem über Auroville. Aber erklären kann er Auroville auch nicht. Ihm sei nur aufgefallen: „Hier ist eins und eins nicht zwei. Hier ist es etwas anderes.“ -----|

Christian Litz        Mai 2001














1999 Indien - Andamanen




 

Weihnachten 1999 auf den Andamanen


Das Einzige, was ich über die Andamanen wußte, war, dass sie irgendwo im Golf von Bengalen liegen, weit und breit von jedem Festland entfernt, früher mal Sträflingskolonie von Indien und übersät mit Ur-Einwohnern, die Neuankömmlinge mit Giftpfeilen begrüßen. Mehr war mir bis vor einem halben Jahr nicht über diese Inselchen bekannt. Grund genug, sie einmal näher kennenzulernen. Also, nichts wie hin.

Interessanter wäre es natürlich gewesen, wenn ich die 3-tägige Schiffsfahrt nach Port Blair - Hauptort der Andamanen, gebucht hätte. Da ich mich aber auf Schiffen üblicherweise mehr mit dem „Füttern der Fische“, halb sterbend über der Reling hängend, beschäftige als mit meiner Umgebung, entschloss ich mich dann doch, das große Loch in meine Urlaubskasse zu reißen und den Hin- und Rückflug – immerhin 400 $ für je 2 Std. Flug - zu buchen, in der Hoffnung, dass man mich weder einbuchten würde noch wollte ich von einem Giftpfeil getroffen werden (immer wieder heimlich gehegter, auf mich bezogener Wunschtraum einiger Arbeitskollegen).

Ja, also wo und was sind sie also wirklich – die Andamanen?


Kurz zur Historie: Im frühen 18. Jahrhundert bereitete Admiral Angre auf den Andamanen seine Überfälle auf europäische Seeflotten vor. Dann übernahmen die Briten das Regiment und etablierten 1857 die gefürchteste Sträflingskolonie ganz Indiens. 1947 wurden die Inseln in die Indian Union im Rahmen der Unabhängigkeit von Indien mit eingeschlossen.

Es ist ein Archipel von 572 tropischen Inseln, gestreut über eine Länge von 700 km mitten im Golf von Bengalen zwischen Indien und Myanmar (Burma), 1190 km von Madras entfernt. 280.000 Menschen leben auf nur 38 Inseln; ansonsten prägen einsame weiße Strände und immergrüner Dschungel das unberührte Paradies. Bis in unser Jahrhundert lebten einzig sechs kulturell verschiedene Stämme in der Abgeschiedenheit. Heute machen die Ur-Einwohner noch 20 % der Bevölkerung aus. Der Rest der Bewohner setzt sich aus Einwanderern aus den div. asiatischen Umländern zusammen. Während Indien lange Zeit versuchte, diese „Primitiven“ durch die Einwanderung vorwiegend von Tamilen zu zivilisieren, sind die Stämme der Nikobaren und nördlichen Andamanen heute vor dem Zugang von Fremden geschützt. Wer dieses Verbot mißachtet, riskiert es auch heute noch, vom Giftpfeil eines Einheimischen begrüßt zu werden, was, wie mir erzählt wurde, mindestens 2-3 Neugierige pro Jahr betrifft. Gefahrlos besuchen kann man hingegen die südlichen Andamanen mit dem Hauptort Port Blair. Bei der Einreise bekommt man ein 30-Tage-Permit, das erlaubt, nur auf die bestimmten Inseln zu reisen.



Nach dem herrlichen Flug über die vielen einsamen Inseln im grün/blauen Wasser kommt erst einmal der Schock. Ich denke, ich glaub’s nicht. Ein Ort wie manche indische Großstädte – stinkend, lärmend, volle Straßen. Warum zum Teufel habe ich bloß so viel Geld für so etwas bezahlt, frage ich mich, verzweifelt auf der Suche nach einer erträglichen Unterkunft. Die auf dem Flughafen gesehenen Backpacker – immerhin doch ca. 10 – 15 Leute – sind alle plötzlich verschwunden. Die Hotels sind voll – it’s Christmas time, my lady, wird mir immer wieder gesagt. Na, das fängt ja gut an. Ich ergattere schließlich ein Zimmer, habe dann auch schnell das für mich inzwischen lebensnotwendige Fortbewegungsmittel in Indien – einen Roller. Die ersten Fahrversuche hatte ich bereits auf dem Festland in Indien schon hinter mir inmitten von Rikschas, Lastkarren, stinkenden LKW und hupenden Busruinen, dazwischen ein paar Elefanten und jede Menge Kühe, alles in einem wirren Knäuel ineinander verstrickt. Wer das überlebt, den schafft nichts mehr. Im Gegenteil, nach einer Zeit wagte ich es sogar mit meinem kleinen motorisierten Gefährt, mich mit einem Auto bzw. Bus anzulegen, indem ich den entsprechenden Gegenpart genauso versucht habe wegzuhupen wie umgekehrt. Irritierte Blicke der jeweiligen Fahrer störten mich immer weniger. Frau muß nur selbstbewußt und dreist genug sein. Dies nur ein kleiner Ausflug zum Thema Mopedfahren in Indien.

Irgendwie überstehe ich auch die 2 Tage in Port Blair, bin jedoch völlig niedergeschmettert, denke mit Schrecken an Weihnachten und bedaure mich selber mit dem Gefühl, dass man auch manchmal einsam sein kann auf solchen Reisen. Der Besuch im 150 Jahre alten Gefängnis trägt auch nicht gerade zur Stimmungsverbesserung bei, aber immerhin werde ich nicht eingekerkert, ist ja schon mal was!

Tags darauf buche ich dann trotz diverser Warnungen, dass sämtliche Inseln mit indischen Weihnachtsurlaubern besetzt wären, mein Schiffsticket auf die 45 km entfernte Havelock Island. Es muss ein Wunder sein, dass wir auf dem nach übelsten Klogerüchen stinkenden, verrosteten und schwankenden Klapperkahn – die Fische kommen mal wieder voll auf ihre Kosten - trotz aller Löcher im Deck nicht untergehen. Ich höre Schreckensmeldungen mit vollen Unterkünften, Zeltübernachtungen mitten im Dschungel, Sandflöhen, Schlangen etc. Na, wunderbar.
Doch dann wird’s wie immer nach ein paar trüben Tagen wieder super. Treffe auf der 6-stündigen Überfahrt 2 nette deutsche Frauen, die wenigstens eine Übernachtung fest gebucht haben und mich im Notfall dort auch nächtigen lassen wollen. Gespräche mit betuchten Indern folgen, u. a.mit einem süßen indischen Pärchen, sie ca. 15, er ca. 17 Jahre alt, frisch verheiratet. Da sie aussieht wie ein geschmückter Tannenbaum, überlegen wir, ob es ihr Hochzeitskleid ist, ober ob sie sich schon weihnachtlich vorbereitet hat. Apropos, wir staunen, wieviele Rucksackreisende doch ihren eingepackten Tannenbaum mitschleppen – tja, etwas Konservatives hat doch so mancher an sich, von dem man es nicht vermutet.....
Delphine säumen unseren Weg, glasklares blau/grünes Wasser, einsame Inseln mit kilometerlangen Sandstränden säumen unseren Weg. Sollte unsere Insel wirklich auch so toll sein? Wir können es kaum erwarten. Und tatsächlich! Nur das nördliche Drittel von Havelock Island ist von bengalischen Siedlern bewohnt, postkartenweiße Strände, türkieses Wasser, Korallenriffe, Delphine und Schildkröten leben rund um die Insel. Jedes Dorf hat statt Namen eine Nummer; na, ist mal was anderes. Ich fahre mit dem Jeep auf der einzigen Straße zur beach no. 7. Es ist wirklich wie im Märchen. Eine kilometerlange einsame Sandbucht, Dschungel mit 10 m hohen Bäumen, ein paar Obst und Gemüse-Verkaufsbüdchen, 2 Bretterbuden, die Restaurant’s sein sollen – und das Tentresort mitten im Dschungel. Man stellt also ca. 20 verrottete alte Zelte, ausgestattet mit jeweils 2 Gestellen (Betten) zur Verfügung. Hängematten sind an den Bäumen ebenfalls befestigt. Da ich die Umgebung so schön finde, bin ich natürlich auch bereit, in diesen Zelten zu schlafen. Doch Pustekuchen. Alles belegt. Man will mich schon wieder zum Bootsanlegerort No. 1 fahren, als ich darauf bestehe, doch noch einmal tiefer im Dschungel nachzuforschen. Dort treffe ich dann überraschenderweise auf eine nette junge Schweizerin, verheiratet mit einem Inder, die dort eine Bungalowsiedlung gebaut haben. Es gibt ca. 10 Hüttchen, vorne offen, auf Stelzen vor Tieren geschützt, ausgestattet mit 2 Matratzen und einem Moskitonetz, natürlich alles belegt. Aber nach einigem Überreden bekomme ich dann doch noch für eine Nacht einen der Bungalows, der immerhin unglaubliche DM 60,-- die Nacht kostet, jedoch ausgesprochen komfortabel ist. Meine beiden Reisefrauen kommen dann den nächsten Tag und wir teilen uns die Unterkunft für weitere 9 Nächte.

Was folgt sind interessante Gespräche mit Leuten aus aller Welt, abends unerwartete tolle Fischmenus und natürlich Sonnenuntergänge am Strand (Sandflöhe werden einfach nicht beachtet, obwohl ich zugeben muss, dass die Stiche manchmal sehr nervig sind). Morgens geht eine von uns erst einmal das Frühstück holen – nämlich Bananen von einem der vielen Bäume rund ums Haus. Einen Tag machen wir eine Session mit Verkleidung.

Wir zaubern uns aus den Bananenblättern bzw. -blüten Herzröckchen, schmücken uns mit Taucherbrillen und Hibiskusblüten und machen viele Fotos mit Stativ. Gut, dass uns mitten im Dschungel keiner sehen kann (nach dem Motto: Mein Gott, sind die Deutschen doof!). Meinen ersten Tauchgang inmitten von Korallen überlebe ich auch unerwarteterweise, was nicht zuletzt an einem schönen, jungen Tauchlehrer aus der Schweiz liegt, der mich so liebevoll unter Wasser betreut, dass schnell der Wunsch nach einer ebenso liebevollen Betreuung über Wasser aufkommt (da ich weiß, dass ihr alle neugierig seid: es blieb bei der Unterwasserbetreuung!!). – Und wen treffe ich noch? Ich überlege, woher kennst du bloß diese Gesichter? Sind das nicht der Norbert und die Sonja aus der dzg? So klein ist die Welt. Da ich noch nicht so lange Mitglied bin, kannten die beiden mich noch nicht persönlich, was ich dann schnell änderte.
Leider mußten sie 1 Tag später den Heimweg wieder antreten. Dennoch hatten wir ein paar Stündchen, um uns auszutauschen.

Die Tage vergehen unmerklich und man kann es sich nicht vorstellen, dass wir den 22. Dezember haben und in 28 ° warmem Wasser baden. Warum kann es nicht immer so paradiesisch sein? Aber vermutlich würde es dann auch mal langweilig werden, oder es müßte mindestens einmal am Tag ein Tiger oder eine Schlange zu Besuch vorbeikommen........................oder ein Tauchlehrer!


Einen Tag vor Weihnachten verlasse ich dieses Paradies, um in Port Blair am 24.12. um 24.00 Uhr eine Open-Air Weihnachtsmesse mit 5.000 Leuten zu verleben, wobei noch zu erwähnen ist, dass die andamanische Bevölkerung überwiegend aus Katholiken besteht. Auf dieses Ereignis hatte ich mich im Vorfeld besonders gefreut, aber, wie alles im Leben, ist auch dieses unkalkulierbar. Die Feier findet auf einer Wiese neben der Kirche statt.

Es wird gefeiert wie bei einem Volksfest einschl. Eisverkauf, Flohmarktartikeln und kitschig-gemalten Christus-Bildern. Wie bei einem deutschen Open-Air-Konzert ist eine Bühne aufgebaut, worauf die „Künstler“ (Pastöre) ihre Messe zelebrieren, allerdings mit einem Unterschied, es ist alles indisch-bunt, kitschig – und natürlich wie immer l a u t . Es befinden sich 2 Lautsprecher auf diesem großen Platz, unter einem stehe ich. Für mich ist es heute noch unvorstellbar, wie ich das 2 Stunden überleben konnte. Es werden – so scheint mir – nur die hohen Töne der Tonleiter gesungen, Lautsprecher auf voller Lautstärke , völlig überdreht und natürlich kaputt. Ich hatte wirklich keine deutsche Weihnacht erwartet, jedoch eine wenig stimmungsvollere und vor allem ruhigere Atmosphäre (wie ich dann später noch in anderen Kirchen in Indien erlebt habe) hätte mir an diesem Abend gut getan. Nun gut, ich wollte es nicht anders.

2 Tage später kommt dann der Abschied von diesen paradiesischen Inseln. Einerseits bedauerte ich es, andererseits freute ich mich schon auf mein nächstes Kapitel, etwas vollständig anderes, nämlich auf Auroville – eine internationale, in Südindien gelegene Zukunftsstadt des inneren Wachstums und des Friedens , auf die ich mich schon seit vielen Jahren vorbereitet und gefreut hatte und die mich nicht mehr loslassen sollte. Doch davon erzähle ich euch in meinem nächsten Bericht.

Annette Weirich (1999 / 2000)                                                  








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25. April 2018

1996 Warum reist frau alleine


Warum reist frau alleine durch Urwald und Steppe?


Ständig werde ich gefragt: Hast Du keine Angst? - Bist Du nicht einsam? - Woher nimmst Du Deinen Mut? - Warum reist Du alleine? usw. usw.

Mit meinem Bericht möchte ich nun andere Frauen, vielleicht auch nicht mehr so ganz jung an Jahren wie ich, ermutigen, diesen offensichtlich noch immer ungewöhnlichen Schritt zu unternehmen - und gleichzeitig Männern aufzeigen: Es geht auch mal ohne euch!

Die Welt des Reisens hat mich schon seit Jahren gepackt. Bereits im Jahre 1979 habe ich zusammen mit meinem damaligen Mann, ausgehend von Australien mit Frechtschiff, Neuseeland durchstreift. Doch meine wahre Liebe galt immer dem Urwald und dem Abenteuer. 1990 entschloss ich mich spontan, einen 6-wöchigen Tripp nach Indonesien zu unternehmen und flog kurzerhand nach Singapur, ohne KKM: Kind, Kegel, Mann. Nach den ersten stark gewöhnungsbedürftigen Nächten an einer 8-spurigen Straße im "Why not homestay"-Guesthouse in einem ca. 20 Männlein-Weiblein-Schlafsaal und dem ersten "Schock" des Exotischen ging's weiter mit Flugzeug nach Sumatra, anschließend per Bus, Schiff, Zug, Motorrad, etc. nach Java, Bali, Lombok - und (für Kenner) Gili Travangan. Meine Erfahrungen mit Urwald, mit dem ich das erste Mal zus. mit meinen beiden indonesischen Führern für ein paar Tage Kontakt hatte, mit der einheimischen Bevölkerung und dem Alleinreisen waren durchweg positiv. Fast überall wurde ich bestaunt und immer wieder gefragt: Warum reist Du allein? Auf diese Frage muss frau situationsbedingt antworten: allein unter Frauen, was selten der Fall ist: die Wahrheit, allein unterMännern: Interesse am Land, schreibe ein Buch, Ehemann hütet zu Hause die beiden Kinder (Bilder immer in der Tasche)! Resultat: Alle sind zufrieden und ich kann beruhigt meiner Wege gehen. Auf dieser Reise traf ich auch eine ganze Menge Traveller aus aller Welt, die ich dann im weiteren Verlauf manchmal wiedergetroffen habe. Ab und zu sind wir zusammen weitergereist, dann mal wieder alleine weiter usw.

Nach diesen erfolgreichen Wochen bekam ich noch mehr Mut und plante meine nächste Reise nach Borneo unter dem Motto: Allein unter Kopfjägern!
Ausgehend von Kuala Lumpur startet ich in Sabah, Kuta Kinabalu, dem malaysischen Teil von Borneo. Von dort ging es mit Bussen weiter in den Norden der Insel, anschließend auf dem Seewege in den indonesischen Teil Kalimantan.
Die Reise führte mich weiter in den Süden. Es folgte ein kurzer Abstecher nach Sulawesi zum Tauchen. Auf dieser 2 1/2 tägigen Schiffsfahrt traf ich den einzigen Europäer unter ca. 300 Indonesiern, nämlich Erich, den deutschen Schiffssicherheitsingenieur, der sich freute, mir das einzige freie Plätzchen in seiner Kabine zur Übernachtung anbieten zu können und (ausschließlich) glücklich war, endlich mal wieder Deutsch sprechen zu können, was er dann auch fast ununterbrochen tat.
Sobald ich mich aus meiner Kabine herauswagte, sprach es sich auf dem Schiff wie ein Lauffeuer herum, dass "die Fremde" draußen wäre, und innerhalb von 5 Minuten war ich umringt von ca. 30 Leuten, die mich bestaunten. Dann weiter auf Borneo per Bus und Mini-Flugzeug (4 männl. Passagiere, 1 Pilot)
wieder aus dem indonesischen Teil in den malaysischen Staat Sarawak. Meine beiden Tripps auf einem der zahlreichen Wasserstraßen ins Landesinnere mit jeweils einem indonesischen Führer verliefen auch sehr positiv und abenteuerlich. Die Familie wurde mir vorgestellt, ich wurde zusammen mit allen fotografiert, hinterließ ein paar deutsche "Andenken" und alle waren glücklich. Von dieser Reise muss ich allerdings sagen, dass ich zu oft alleine nur mit den Einheimischen war und ich sehnte mich nach den meist sehr lustigen und netten Zusammentreffen mit anderen backpackern. Wo ich auftauchte erregte ich Aufsehen und wurde bestaunt, was einem nach einer Zeit doch sehr auf den Nerv gehen kann. Die fehlenden Englischkenntniss der Insulaner waren dann auch manchmal zeitraubend und anstrengend, worauf ich beschloss, vor der nächsten Reise die entsprechende Sprache einigermaßen zu erlernen.

Meine weiteren Erfahrunge in Marokko waren manchmal sehr nervend, da die arabischen Männer doch recht aufdringlich sind, besonders wenn sie mitbekommen, dass frau Französisch spricht. Mir wurde auch einmal nach längeren Diskussionen mit einem marokkanischen Mathematiklehrer gesagt, dass er es nicht gut fände, wenn selbstbewusste, alleinreisende und dann noch in seinen Augen feministische Frauen "aufrührerisches Gedankentum" in sein Land brächten und er wolle sich nicht länger mit mir unterhalten. Andererseits war ein Hotelbesitzer total begeistert, wollte mich heiraten und hatte die Idee, dass ich marokkanische Frauen selbstbewusster in ihrer Eigenschaft als Frau unterstützen solle.

Die Gründe für meine alleinigen Unternehmen sind pragmatischer Art: Reisen ist meine absolute Leidenschaft. Ich habe nichts dagegen, mit einem Freund oder Freundin zusammen zu reisen. Dieses scheiterte meistens jedoch an der bei manchen noch vorhandenen Familie, Geld, Mut, Zeit oder auch mangels Masse an entsprechenden Leuten. Dadurch dachte ich: Wat mut, dat mut, reise alleine, wenn Du die Welt kennenlernenwillst und warte nicht auf Mitreisenden, denn dafür ist das Leben zu kurz und Leute trifft frau unterwegs meistens genug! Was den Mut anbelangt, so wächst er mit der Zeit immer mehr. Wenn frau selbstbewusst auftritt, weiß, was sie will, ebnet Mann ihr wirklich den Weg. Zum Thema Einsamkeit muss gesagt werden, dass man unterscheiden muss zwischen Alleinsein und Einsamsein. Voraussetzungen für das Alleinsein auf Reisen sind psychologische Kenntnisse der eigenenPersönlichkeit, das Wissen, auch mit schwierigen Situationen allein fertig werden zu können, wunderschöne Erlebnisse auch alleine genießen zu können sowie gutes Informationsmaterial für entsprechende Rucksackreisen. Einsamkeit stellt sich manchmal an blau-grünem Wasser, einsamen Korallenstränden, wunderschönen, rauchenden Vulkanen und bei phantastischen Erlebnissen ein, wenn dann gerade nicht der /die entsprechende Freund/In da ist, um das mit einem zu teilen. Doch diese Momente vergehen meistens schnell, da ich weiß, dass zu Hause gnügend Freunde da sind, die später intensiv an den Erlebnissen Interesse haben werden.

Erwähnen möchte ich noch, dass ich mich seit jeher bemühe, einen sanften Tourismus zu praktizieren, d.h. mich in einer unweltverträglichen und sozialverantwortlichen Art und Weise in den jeweiligen Ländern zu verhalten.

Meine nächste Reise wird mich nun in ein für mich neues Gebiet, nämlich nach Mittelamerika, nach Costa Rica und Panama führen, von wo aus ich später über den berühmt/berüchtigten Darien-Trek in den Choco-Regenwald nach Kolumbien wandern möchte. Mal sehen, was mich dort erwartet!

Also auf, Frauen: Fehlen die entsprechenden Mitreisenden und ihr habt Lust, die Welt zuz entdecken, reist, reist! Es ist ungefährlicher als ihr denkt. Doch bemüht euch auch, dieses in einer integrativen Form zu tun.

Annette Weirich (1996)





1998 Indien











Reisebericht aus dem Jahre 1998


Indien                                
Land der Widersprüche
das gänzlich Andere, das völlig Unerwartete


Von meinen Freunden hatte ich gehört: „Entweder Du fährst einmal und nie wieder hin, oder die Faszination dieses Subkontinents packt Dich und bleibt für immer bestehen. Dieses Land ist anders“. Nirgendwo ist dieser Satz so angebracht wie in Indien. Das gilt nicht nur für Gestikulation und Verhaltensweisen. Das gilt auch für Sitten und Gebräuche, für Religion und Kultur, für Festlichkeiten und Alltagsleben. Indien hat seinen eigenen Geruch. Wo geht der Respekt vor allen Lebewesen so weit, dass vegetarisches Essen als einzig denkbare Ernährungsweise erscheint? Wo bitte sonst noch weigern sich Menschen gar, Kleidung zu tragen, aus Angst, sie könnten andere Kreaturen damit verletzen? Wo hockt der Friseur mit nichts anderem in der Hand als dem Zeichen seines Standes, der Schere, auf der Straße und wartet auf Kundschaft? Wo sonst gibt es Menschen auf der Suche nach dem spirituellen Weg, die alle irdischen Annehmlichkeiten ablegen und oft unter großen Entbehrungen in der Abgeschiedenheit leben?  -   Aber auch das andere Indien gibt es: Wo sonst können Kühle heilig sein, während Menschen verhungern?

Der Reiz, dieses Land auf meine eigene Weise zu bereisen, wurde immer größer. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bevor ich mich entschloss, ein so widersprüchliches und dazu noch so armes Land alleine zu entdecken. Hinzu kam die Überlegung, dass die indischen Frauen einen Hauptwiderspruch darstellen: mit Recht lässt sich sagen, dass sie in außergewöhnlichem Maß unterdrückt werden, und ebenso wahr ist, dass sie außergewöhnlich selbstbewusst und vielleicht sogar außergewöhnlich frei sind. In den achtzehn Jahren, da Indien von einer Frau regiert wurde, haben auch Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen massiv zugenommen. Dieses ist für Indien nicht ungewöhnlich. Auf meiner Reise habe ich viele Frauen in allen möglichen Berufen gesehen: Ärztinnen, Krankenschwestern, Lehrerinnen, Ingenieurinnen, Wissenschaftlerinnen und gleichzeitig habe ich der Presse entnehmen können, dass täglich Vergehen gegen Frauen stattfinden. Die Frau als Staatsoberhaupt und als Gewaltopfer: Das sind lediglich Extreme einer wesentlich komlexeren Realität. Die indische Frauenbewegung ist präsent und lebendig. Dass sie nicht als einheitliche Strömung zu erkennen ist, mag der Grund dafür sein, dass sie nicht in ihrer ganzen Breite wahrgenommen wird; richtigerweise müsste man aber gerade in dieser Pluralität eine Stärke sehen. In einer Kultur, die so vielfältig und so traditionsreich ist wie die indische, ist es nicht einfach, Verhältnisse zu ändern, welche - wie die meisten Anliegen der Frauenbewegung - die Grundlagen der Gesellschaftstruktur betreffen.
Soweit ein paar Gedanken zu dem Thema Frauen in Indien.

Mit einer großen Portion Angst und Respekt landete ich in Delhi, einer jener indischen Moloche, einer Hauptstadt mit über acht Millionen Einwohnern. Von Hannover aus hatte ich per Telefon ein Bett im YMCA geordert auf den Namen „Weirich - Deutschland“! Und tatsächlich - das Unerwartete geschah. Mein Zimmer war reserviert - auf der einen Seite ein dunkles Loch mit zugezogenen Gardinen, auf der anderen Seite wurde der Eingang des Hotels Tag und Nacht bewacht, selten hatte ich das Gefühl, so behütet zu wohnen.
Am nächsten Tag wollte ich meine Busfahrt in den Himalaya, nach Leh, Ladakh, höchstgelegene Region Indiens, buchen. Das erste Mal hörte ich hier die Worte: No problem. Diese sollten mich auf der ganzen Reise begleiten. Der Inder sieht in nichts Organisatorischem ein Problem. In Wahrheit ist jedoch alles ein Problem: Die richtige Straße bzw. das richtige Haus zu finden in einem bunten Schilderwald, aufgrund mangelnder Englischkenntnisse der Inder erhält man falsche Antworten, Rikschafahrer, die mich in eine andere Richtung bringen, um mehr Rupees zu bekommen, ohrenbetäubender Straßenlärm, Gestank, Kaufen eines Zugtickets. Bettelei, etc. etc.

Zurück zu meiner Busbuchung: Ein weiteres Problem tut sich auf: „Road is closed“, wird mir gesagt (wegen Überschwemmung der Straße). Nach einigen anderen Schwierigkeiten bekomme ich dann 5 Tage später einen Flug nach Ladakh. Zuvor nehme ich mir noch einen Jeep mit Fahrer und lasse mich zum Taj Mahal und nach Rajastan fahren. Die ganzen 3 Tage ist die Luft voll von Abgasen. Wracks säumen die „Straße“. „Please horn“ steht hinten auf vielen LKW’s. Jeder hupt immer, und jeder hupt anders. Die indische Hupe blökt, trötet, pfeift je nach PS-Kaste des Gefährts. Sie ersetzt die gesamte europäische Straßenverkehrsordnung samt Ampeln und Schilderwald. Ein Tag und Nacht brummender, hupender Kreisel aus Autos und Auto-Rikschas, Lastträgern, Lastwagen und Karren, vor die ein Kamel gespannt ist, ein Büffel, ein Esel. Wer nicht einmal einen Esel und auch keinen Karren besitzt, schleppt seine Habe, das kann ein ganzes Geschäft sein, ein kompletter Haushalt, auf dem Kopf umher. Teeverkäufer, Brahmanen („menschliche Götter“ - oberste Schicht der Kastengesellschaft), heilige Kühe, unheilige Ziegen und Schweine, ausgetrocknete alte Weiblein, junge Mädchen auf dem Sozius eines Motorrollers bahnen sich ihren Weg. Vor meinen Füßen kickt ein Auto einen Esel einen halben Meter vor. Ein kurzer böser Blick des Eselbesitzers, ein bedauernder Blick zurück, zwei Lächeln. In den Straßen kochen und hämmern, schneiden und feilen dicht an dicht Hunderte kleiner Handwerker in ihren offenen Stuben. Wie 1000 Jahre vor der Erfindung der Zahnbürste bieten Frauen frischgeschnittene Zweige zum Kauen feil. Sie reinigen die Zähne und kräftigen das Zahnfleisch. Unübersehbar und für mich schockierend ist jedoch Indiens Armut: Unterernährte Kinder mit aufgetriebenen Bäuchen, verendende Hunde und Katzen, die Hand eines verkrüppelten Bettlers, die in das im Stau steckende Taxi hineingeschoben wird. Ein paar aus Mitleid gegebene Rupees riefen einmal blankes Entsetzen bei mir hervor, da nämlich wie aus dem Nichts Dutzende von Kinder erschienen in der Hoffnung auf weitere Geschenke. Ich mußte mir klarwerden, dieses Problem kann ich nicht lösen. Ich mußte meinen eigenen Weg finden, mich abzuschotten ohne darüber zu vergessen, dass niemand aus Vergnügen bettelt. Beschämend ist nur für mich immer wieder gewesen, dass selbst die Ärmsten der Armen so sehr gastfreundlich sind.

Dann kommt mein heißersehnter Flug in den Himalaya. Dies bedeutete erst einmal vorab: 3.30 Uhr Aufstehen, Taxi zum Abfahrtspunkt Richtung Flughafen, Warten in Delhi auf fast menschenleerer Straße auf einen evtl. kommenden Bus, nur Bettler liegen vereinzelt in der Ecke, Rikscha-Fahrer wollen mir einreden, dass der Bus nicht kommt. Angst schleicht sich ein mit dem Gedanken: Wie verrückt muß ein Mensch sein, sich solch einer Situation freiwillig auszusetzen?
Unerwarteterweise erscheint dann der Bus sogar pünktlich auf die Minute und die Belohnung für den Stress folgt ebenfalls: Sonnenaufgang über dem 7000 m hohen Gebirgsmassiv. Ein kaum zu beschreibendes Gefühl und Erlebnis, fast schon unwirklich wie im Traum.
Endlich die ersehnte Ankunft im herbstlichen Leh, Ladakh, 3.554 m hoch, - die Inkarnation des tibetanischen Buddhismus . Ein wunderschönes „Schaufenster-Zimmer“ in einem süßen kleinen Guesthouse, umrundet von den schneebedeckten Gipfeln des Himalayas, erwartet mich. Mitreisende aus aller Welt sind immer wieder meine Begleiter. Trotz aller beschriebenen Warnungen bewege ich mich dann am ersten Tag zu viel in der Höhe und bekomme prompt AMS (Accute Mountain Sickness) Symptome: Appetitlosigkeit , starke Kopfschmerzen, Lethargie, Atemlosigkeit. Nach einem Tag Ruhe und Einnahme von mitgebrachten Tabletten vergehen die Schmerzen. Eine Woche verbringe ich unter diesen friedvollen, freundlichen, liebenswerten und gefühlvollen Menschen. Überall sitzen die Lydakhi herum, rauchen, trinken Tee und handeln. Die Ernte wird eingefahren. Frauen treiben stundenlang singend Heu-dreschende Esel an. Das Ganze ist einfach paradiesisch! Ich werde eingeladen bei einer heimischen Familie zum berühmten Buttertee, den ich dann heimlich hinter mir im Gebüsch versickern lasse, da er für meinen europäischen Gaumen einfach ungenießbar ist.

Meinen ursprünglichen Wunsch, eine Busreise nach Kaschmir erfülle ich mir nicht, da dieses Gebiet zur Zeit noch Kriegsgebiet ist. Seit 1989 findet in Kaschmir ein bewaffneter Guerillakampf gegen die Zugehörigkeit Kaschmirs zu Indien statt. Verschiedene Gruppen bekämpfen die indische Regierung in Gestalt ihrer Armee mit unterschiedlichen Zielen. Einige bestehen auf der Unabhängigkeit Kaschmirs, andere wünschen einen Anschluß an Pakistan. Letztere werden durch verschiedene politische Kräfte in Pakistan tatkräftig unterstützt.

So fahre ich dann mit diversen Bussen in insgesamt 4 Tagen ( teilweise 16 Stunden pro Tag) eine Strecke von 1.250 km nach Delhi zurück. Ach ja, nicht zu vergessen, wieder eine nächtliche Abfahrt um 3.30 Uhr von Ladakh aus (diese Uhrzeit scheint mich zu verfolgen), kläffende Hunde um mich herum, elektrisches Licht gibt es mal wieder nicht, also mache ich mich mit Rucksack, Tüten und Taschen und der Hoffnung auf eine funktionierende Taschenlampe auf den halbstündigen Weg, Schweiß rinnt mir beim Aufladen meines Rucksackes auf den Bus den Rücken herunter - bin schon mit den Nerven fertig bevor es losgeht. Im Bus sitzen 30 Männer, 1 Baby und dazwischen befinde ich mich.
Dann jedoch wieder ein Highlight meiner Reise: Wir passieren 3 extrem hohe Pässe und die kurvenreiche Gebirgsstraße führt uns über die zweithöchste befahrbare Strecke der Welt, wir überfahren den 5.320 m hohen Taglangla. Unterwegs wechselnde Landschaften - mal öde wie der Mond, Gletscherwassser läßt nur ein paar kleine Felder ergrünen - mal hängen Häuser wie Chalets in den Bergen und ich fühle mich wie in der Schweiz, glasklare Flüsse begleiten unseren Weg. Von buddhistischen Tempeln klingt der zarte Schlag der Windglocken. Hinter den Panoramen des Hochgebirges liegen die Täler. Gompas, Stätten des tantrischen Buddhismus säumen den Weg. Om mani padme hum, das sechssilbige Mantra ist in Gebetssteine und Mauern am Wegesrand eingeritzt.

Angekommen in Delhi nehme ich den Zug. Wieder ein Abenteuer für sich: Die Eisenbahn Indiens ist die Bahn mit den meisten Fahrgästen. Eines ist über anderthalb Jahrhunderte gleichgeblieben: Sie kann die Zahl der Fahrgäste schlicht nicht bewältigen. Zehn Millionen fahren tagtäglich mit irgendeinem Zug. Dies bekomme ich dann am eigenen Leib zu spüren: Eng aneinander gepreßte Menschen, dazwischen Hühner, Kisten, Kästen, Inder, die versuchen, den Zug zu stürmen, um noch hineinzukommen, an den Fenstern hängende halbnackte Gestalten, auf dem Dach liegende Leiber - und dazwischen stecke ich mal wieder, eine Hand an meinem Rucksack, einen Ellenbogen in Augenhöhe, um mir 20 cm Freiraum zu erhalten, über mich steigende Menschen - kurz gesagt: Ein 10-minütiger Horrortrip von Old-Delhi nach Neu-Delhi.

Meine Zugreise 1. Klasse für 35 Stunden nach Goa im Liegewagen ist jedoch wieder schön und z.T.  geruhsam. Gespräche mit den Mitreisenden verkürzen und verschönern die Reise. Die Freundlichkeit der Inder fällt mir immer wieder auf und ich lerne sie mehr und mehr schätzen.

In Goa, kleinster Bundesstaat mit einer Mischung von indischem und portugiesischem Kulturgut, Badeparadies mit mediterranem Flair, habe ich das Glück, eine wunderschöne Bambushütte, 50 m vom indischen Ozean entfernt, ergattern zu können. Endlich mal eine längere Pause nach all den Reisestrapazen. Nur noch schwimmen, tauchen, einkaufen, klönen............
Mit ein paar netten Mitreisenden chartere ich nach einer Weile ein Taxi, das uns nach Mysore bringt, der Sandelholzstadt, Wohnsitz des Maharajas, der einst das Gebiet des Staates Karnataka regierte. - Tja, der Palast - das ockergelbe Gebäude mit den Zwiebeltürmen, in dem noch einige Nachfahren des Maharajas leben, imponiert uns sehr, besonders am Abend, wenn der Palast von 97.000 Glühlampen angeleuchtet wird. Wir sind verzaubert und fühlen uns um ein Jahrhundert zurückversetzt - kommen uns vor wie im Märchen aus 1001 Nacht. Doch als eine Militärkapelle den Radetzky-Marsch spielt, werden wir unsanft in die gegensätzliche Welt Indiens zurückgeholt.

7000 km Reise in diesem Staat liegen hinter mir. Ein Staat mit 17 offiziellen Sprachen, in wenigen Jahrzehnten das bevölkerungsreichste Land der Erde mit 2 Milliarden Einwohnern, 7 großen Religionen - der Hinduismus ist vor allem von besonderer Bedeutung, da er einer philosophischen Denkweise unterliegt und für mich eine erstrebenswerte Lebensart darstellt. Indien ist gleichzeitig atemberaubend schön bis abgrundtief häßlich, stinkreich bis bettelarm, herrlich entspannend bis tödlich nervend. In jedem Fall ließ Indien mich nie kalt, sondern berührte mich in jeder Situation auf angenehme bis unangenehme Weise. Für mich ein Land mit einer noch nie erlebten Faszination.

Wehmütig besteige ich nach 6 Wochen den Flieger in Bombay mit einer bleibenden Sehnsucht und
einer Gewissheit: Es wird nicht mehr viel Wasser den Ganges hinabfließen, bevor ich wiederkomme........

Annette Weirich (1998)
(leider nur noch Papierbilder vorhanden)





Du rüttelst mich auf den Straßen und

läßt mich nicht schlafen,
du schüttelst mich in den Zügen und stellst
meine Geduld auf die Probe.

Du zerrst an meinen Nerven, niemals kann man
ungestört in der Straße entlang laufen,
Du willst mir ständig etwas aufdrängen,
oder einfach nur Almosen.

Du stellst meinen Geschmackssinn auf die Probe
und wie viel Schärfe ich vertrage.
Du forderst mich zum Probieren auf von all Deinen
seltsamen Speisen und Früchten.

Du reizt meine Nerven, mit Lärm und Gehupe
sowie meine Nase mit Deinen Abgasen.

Du erstaunst mich mit Deiner Fremdartigkeit
und so vielen skurrilen Dingen.

Du stellst meine Gutmütigkeit auf eine harte Probe.

Du verlangst mir viel ab und veränderst mich,
deshalb liebe ich Dich

m y               I   n   d   i   a